Christoph Keese
Online-Medien sind starke Agenda-Setter, sagt der Welt-Chef. Zeitungen werden aber nicht verdrängt.
Herr Keese, die Welt-Gruppe hat sich seit November 2006 an die Spitze des Online-Publishings unter Tageszeitungen gestellt. Wie zufrieden sind Sie mit der "Online-First"-Strategie?
Wir sind sehr zufrieden damit. Wir haben Wettbewerber wie "Die Zeit" weit hinter uns gelassen. Die Website von "Welt online" ist jetzt mit etwa 50 Millionen Seitenaufrufen zweieinhalb Mal so groß wie zur Zeit ihres Starts. Das ist ein sehr erfreulicher Fortschritt, der vor allem mit unserer Strategie "Online first" zusammenhängt. Im Internet wird mit dem Klickverhalten direkt über die journalistische Qualität abgestimmt. Es gibt Tage, da haben Leitartikel und pointierte Meinungen die höchsten Klickraten. Deshalb sind wir auch journalistisch sehr zufrieden, weil es der Gesamtredaktion gelingt, Themen zu setzen, die das Publikum online interessieren.
Womit hängt das zunehmende Engagement vieler Zeitungen im Netz zusammen?
Das Internet ist journalistisch reizvoll. In zunehmendem Maße informieren sich Menschen online über das Weltgeschehen. Und das machen sie auf eine direkte, schnelle und unmittelbare Art und Weise. Journalisten müssen ebenfalls direkt und schnell informieren. Insofern besteht ein unmittelbarer Kontakt. Zudem ist das Online-Medium auch politisch wichtiger geworden. Die Rezeption von Nachrichten und Wirklichkeit in der Politik, aber auch in der Öffentlichkeit, funktioniert stärker als früher über das Internet. Man kann heute mit dem Internet Agenda-Setting betreiben, Themen setzen und Diskussionsbeiträge liefern, die von vielen wichtigen Entscheidern gelesen werden.
Wie wirkt sich die allgemeine Verfügbarkeit von Information im Internet auf den Journalismus aus?
Das Internet ist eine von vielen Quellen. Kein Journalist kann sich allein darauf verlassen, im Internet zu recherchieren. Deswegen gilt die gleiche Sorgfaltsverpflichtung wie bei der normalen Recherche auch.
Hat sich die journalistische Arbeit verändert?
Die Beschleunigung der Veröffentlichung wird oft verwechselt mit einer Beschleunigung der Arbeitsprozesse. Das geht an der Realität vorbei. Die schiere Tatsache, dass zwischen dem Drücken des Sendeknopfes und dem ersten Leser nur wenige Sekunden liegen, heißt keineswegs, dass der Journalist schneller und oberflächlicher arbeitet als zu Print-Zeiten. Ein Journalist kann sich im Internet so viel Zeit nehmen, wie er möchte. Vielfach hat er sogar mehr Zeit, weil es egal ist, ob der Artikel um 17.30 Uhr oder 18.30 Uhr erscheint.
Die Konkurrenz schläft nicht.
Das würde ja bedeuten, dass eine Website auf Dauer erfolgreich ist, wenn sie immer alles als Erste bringt. Das ist nicht der Fall. Bei eiligen Meldungen nimmt man das Material der Nachrichtenagenturen. Keine Redaktion hat den Anspruch, innerhalb der ersten Minuten aus eigener Anschauung zu berichten. Aber man hat den Anspruch, von Korrespondenten vor Ort oder dem politischen Leitartikler einschätzende Meinungen zu erhalten. Derjenige, der sich im Thema am Besten auskennt, soll möglichst schnell mit der Arbeit beginnen.
Dem Gefühl nach haben Flüchtigkeitsfehler und Falschmeldungen im Internet zugenommen. Wie betreiben Sie Qualitätssicherung?
Es gelten die gleichen Qualitätsstandards wie bei Print. Wir sind Journalisten, die sich eine bestimmte innere Verfassung gegeben haben, mit bestimmten Regeln, und die gelten online ohne jede Einschränkung genauso. Wir haben ein mehrstufiges Qualitätskontrollsystem eingerichtet, eine normale Bearbeitungsstaffel, bestehend aus Redakteur, Ressortleiter, Teamleiter und Chefredakteur. Die einzigen Ausnahmen waren bisher Blogs und User-generated-Content. Das aber ist ein Spezialthema.
"Welt", "Welt am Sonntag", "Welt kompakt" und "Berliner Morgenpost" bilden jeweils eigene Marken. Wie gewährleisten Sie im Newsroom, wo Redakteure alle vier Marken betreuen, die Eigenständigkeit der einzelnen?
Wir haben einen gemeinsamen Markenkern definiert. Die Zeitungen, so unterschiedlich sie auch sind, haben ein gemeinsames Verständnis von Journalismus und trotzdem sehr verschiedene Profile. Aus diesem Grund verwenden wir nicht alle Energien darauf, horizontale Synergien herzustellen. Ungefähr 70 Prozent unserer Kollegen arbeiten horizontal und sind Experten für Sport, Beethoven oder Telekommunikation. 30 Prozent arbeiten vertikal und machen nichts anderes, als einen unserer Titel zu betreuen, also nur "Welt am Sonntag" oder nur "Die Welt". Der oberste Vertikalist ist der Chefredakteur, der für ein Blatt verantwortlich ist.
Nach welchen Kriterien entscheidet sich, welche Informationen online gehen und welche am nächsten Tag ins Blatt gelangen?
Die Horizontalisten formulieren die Angebote und die Vertikalisten entscheiden, was ins Blatt kommt und was nicht. Das Internet hat andere Einschaltzeiten. Die wichtigste Zeit online liegt zwischen 8 und 16 Uhr. Die Arbeit im Newsroom beginnt morgens um 6 Uhr und endet nachts um 1 Uhr zum Redaktionsschluss von "Welt kompakt". Dass der Experte für Beethoven oder Hertha BSC einen normalen Arbeitstag hat und nicht im Schweiße seines Angesichts 18 Stunden arbeiten muss, und dass trotzdem all sein Wissen einfließt - dies zu organisieren, ist die eigentliche Kunst.
Stimmt der Eindruck, dass kürzere Artikel eher ins Netz gelangen, während Leitartikel, Kommentare und Essays in der Zeitung erscheinen?
Wir haben vor zwei Monaten "Welt.Debatte" gestartet, einen Unterkanal, der von Richard Herzinger betreut wird, unserem Online-Debatten-Chef. Im Augenblick befinden sich sogar mehr Leitartikel online als in der Zeitung. Viele Beiträge werden gut geklickt. Internet-Leser lesen auch lange Texte. Die Herausforderung für die Redaktion besteht also gar nicht darin, Texte zu verlängern oder zu kürzen, sondern gute Texte online zu stellen und ins Blatt zu bringen.
Stimmt es, dass das Internet die Reichweite von Zeitungen beflügelt?
Dieses Argument ist empirisch nicht so leicht zu belegen. Definitiv falsch ist aber das Gegenargument. Denn dass das Internet die Zeitung kannibalisiert und ihr Reichweite stehlen würde, kann man nicht belegen. Je breiter das Produktportfolio einer Marke ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich Leute zu dieser Marke bekennen. Das hat bei Zeitungen in den USA wie der New York Times dazu geführt, dass, obwohl die Auflagen sinken, die Reichweiten gestiegen sind. Man kann nicht genau sagen, woran das liegt, aber eine der Theorien besagt, dass dies mit dem Erfolg der Web- site zu tun hat.
Zur Online-First-Strategie gehört die Einbeziehung der User, die Partizipation. Welche Angebote werden bei Ihnen besonders gut angenommen?
Zum Beispiel Umfragen. Ich hätte nie gedacht, dass die Sonntagsfrage, die wir kürzlich einmal gestellt haben, zur stärksten Beteiligung in den letzten drei Monaten führen würde. 6.000 Leute haben teilgenommen. Darüber hinaus werden Themen intensiv diskutiert und kommentiert. Interessanterweise wird Vieles, von dem man immer gerüchteweise vermutet hat, dass es die Menschen nicht interessiert, durch das Internet falsifiziert. Zum Beispiel heißt es, die Leute interessierten sich nicht für Außenpolitik. Oder ein Toter zu Hause auf der Straße sei immer interessanter als ein Toter in Bolivien. Das stimmt nicht und entspringt dem vornumerischen Denken im Journalismus. Früher ist man meist nach dem Bauchgefühl gegangen. Jetzt weiß man es etwas besser.
Ist Partizipation eine Art von Demokratisierung oder ein Mittel zur Kundenbindung?
Die notwendigerweise hierarchisch organisierte Teamarbeit einer Redaktion ist ein Gegenentwurf zum basisdemokratischen Bloggeransatz. Das sind zwei komplementäre Konzepte.
Wir betreiben Qualitätsjournalismus nach überprüfbaren Standards und in möglichst gleich bleibend hoher Qualität. Bloggen dagegen heißt "Ich bin mein eigener Chefredakteur, mein eigener Verleger und stelle meine Überlegungen, ob ich recherchiert habe oder nicht, sofort ins Netz". Unser Anspruch ist: Qualitätsjournalismus mit Partizipation. Völlige Demokratisierung würde bedeuten, dass ein User auch die Nachrichtengewichtung festlegen kann. Das soll er nicht können.
Dann stellen Blogger keine Konkurrenz für Sie dar und auch nicht Portale wie "OhmyNews" mit alternativem Journalismus?
Südkorea hat eine ganz andere Presselandschaft, für die das Wort "freie Presse" in unserem Sinne nicht zutrifft. Beim Portal "OhmyNews" hat sich die Bürgergesellschaft zusammengetan und ein Alternativangebot geschaffen. Das darf man aber nicht auf westliche Industrieländer mit wirklich freier Presse übertragen. "OhmyNews" hat seine politische Berechtigung und seinen Markenerfolg durch die besondere Situation Koreas erlangt.
Im Internet findet augenblicklich besonders bei der ganz jungen Klientel ein Wandel im Rezeptionsverhalten statt. Ist das Zeitungs-Abo nur eine Frage des Lebensalters oder sind Jugendliche auf immer verloren?
"Welt kompakt" ist das Gegenbeispiel. Mit dieser Zeitung erreichen wir sehr viele Leser zwischen 20 und 30 Jahren. Ein zweites Gegenargument wäre, dass die auf der Welt bedruckte Tonnage von Zeitungspapier auch in den letzten 15 Jahren, seit der Einführung des Webs, nicht gesunken, sondern gestiegen ist.
Wie sieht die Zeitung in 20 Jahren aus?
Die Zeitung wird vom Erscheinungsbild, von ihren Formaten, vom Papier, auf dem sie gedruckt ist, und von der Zahl der Bücher, in die sie unterteilt ist, ungefähr so aussehen wie heute. Das Layout wird sich ändern. In welche Richtung, hängt stark von den geschmacksbildenden Einflüssen wie Mode, Werbung, Film und Fernsehen ab. Online wird vorangetrieben durch technische Innovationen, wobei die Leitungen noch schneller werden und dadurch der Bildanteil auf den Seiten noch größer. Aber er wird den Textanteil nicht ver- drängen.
Ich glaube, wir werden in den nächsten 15 Jahren die völlige Konvergenz zwischen Internet und Fernsehen erleben.
Das Interview führte Helmut Merschmann.