Wikipedia
An der Online-Enzyklopädie kann sich beteiligen, wer möchte. Auch mit seinen Fehlern.
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile -doch gelegentlich leidet eben dieses Ganze darunter, wenn es aus zu vielen Teilen zusammengesetzt ist. Diese Erfahrung musste in den vergangenen Jahren das wohl erfolgreichste Online-Projekt der Welt machen: Wikipedia.
2001 von dem Philosophen Larry Sanger und dem Unternehmer Jimmy Wales ins Leben gerufen, war Wikipedia zunächst nur ein Ableger der Online-Enzyklopädie Nupedia. Deren Artikel wurden von Fachautoren verfasst und vor der Veröffentlichung auf Fehler geprüft. Dies garantierte zwar einen hohen Standard, führte aber dazu, dass die Enzyklopädie nur langsam Form annahm: Als das Projekt im September 2003 sein Ende fand, waren erst 24 Artikel fertiggestellt.
Seine Gründer hatten sich in der Zwischenzeit neu orientiert und konzentrierten sich auf das Projekt Wikipedia.
Dessen Name setzt sich aus dem haiwaiianischen Begriff "wiki" (schnell) und dem englischen Wort "encyclopedia" zusammen - und er ist Programm: Autoren aus aller Welt tragen dort ihr Wissen zusammen. Jeder kann Einträge anlegen oder ändern. Dafür müssen die Autoren weder ihren Namen noch ihre E-Mail-Adresse angeben - gespeichert werden nur die jeweiligen Versionen des Artikels und die IP-Adresse desjenigen, der daran gearbeitet hat. Entstehen soll so eine gigantische Wissenssammlung, an der jeder mitarbeiten kann, der meint, er kenne sich auf einem Gebiet besonders gut aus, und der dieses Wissen mit anderen Menschen teilen will. Dieser Drang ist gar nicht so selten: Allein die deutsche Wikipedia enthält aktuell mehr als 600.000 Artikel, das englische Original bringt es auf fast zwei Millionen. Mittlerweile existiert Wikipedia in mehr als 70 Sprachen und wird von vielen Usern weltweit ganz selbstverständlich als leicht zugängliches Nachschlagewerk genutzt.
Doch blind vertrauen sollte man dem Online-Lexikon eher nicht: Immer wieder macht Wikipedia mit falschen Informationen und kruden Einträgen Schlagzeilen. Besonders heftig brach die Kritik im Jahr 2005 über die Wikipedianer herein: Über Monate hinweg hatte es unbeanstandet in einem Eintrag über den US-Journalisten John Seigenthaler geheißen, er sei in die Ermordung von John F. und Bobby Kennedy verwickelt gewesen. Den Eintrag konnte Seigenthaler zwar löschen lassen, dass die Anschuldigungen in der Welt waren, ließ sich jedoch nicht rückgängig machen.
Im gleichen Jahr zeigte sich, dass die Wikipedia-Einträge durchaus nicht nur der Wissensvermehrung, sondern auch Publicityzwecken dienen. Über Wochen hinweg wurden Absätze in einem Wikipedia-Artikel über den CDU-Politiker Jürgen Rüttgers geändert. Die Autoren warfen sich in einer endlosen Diskussion (wikipedianisch: "edit war") wahlweise vor, Rüttgers in einem besseren Licht erscheinen zu lassen oder ihn schädigen zu wollen.
Auch FDP-Generalsekretär Dirk Niebel focht einen langen Kampf dafür aus, dass in einem Artikel über ihn statt von "Skandal" von "Vorwürfen" die Rede war. Die Verursacher der Änderungen wurden sowohl in Niebels Büro als auch in der Bundesagentur für Arbeit vermutet. Die IP-Adressen der Autoren hatten zwar dorthin geführt, ließen sich aber nicht einzelnen Personen zuordnen.
In Misskredit hat Wikipedia das eigene Prinzip gebracht: Wenn jeder mitschreiben kann, kann auch jeder Fehler einbauen. Die Zahl der Autoren ist zu groß, als dass alle Artikel vor oder wenigstens kurz nach ihrer Veröffentlichung auf Fehler, Unterstellungen oder Manipulationen hin untersucht werden können.
Damit halten sich auch Artikel, die einzig dazu angelegt sind, Fehler in die Enzyklopädie einzubauen oder Menschen zu schaden. Mitbegründer Larry Sanger, der inzwischen mit "Citizendium" ein neues Projekt ins Leben gerufen hat, stellte denn auch nach seinem Ausstieg 2001 fest, er habe es nicht ertragen, "dass Laien alles mit Hohngelächter kommentieren dürfen, was ein Experte sagt". Dieses Dilemmas sind sich die Wikipedia-Macher bewusst. Man habe keine Sicherheit, "dass Artikel einhundertprozentig korrekt sind", räumt Tim Bartel, Mitglied des deutschen Wikipedia-Presseteams, ein. "Deshalb weisen wir auch immer wieder darauf hin, dass es keine gute Idee ist, sich bei der Recherche ausschließlich auf Wikipedia zu stützen. Man sollte immer auch Primärquellen hinzuziehen." Obwohl die Kritik an fehler- oder lückenhaften Einträgen richtig sei, habe sich das Projekt "als durchaus erfolgreich erwiesen. Wir sind in vielen Bereichen sehr gut, oft sogar besser als konventionelle Enzyklopädien."
Das wurde Wikipedia auch vom renommierten Wissenschaftsmagazin "Nature" und dem Computermagazin "c't" bescheinigt: Deren Redakteure waren im Dezember 2005 zu dem Schluss gekommen, die englischsprachige Wikipedia weise nicht viele Unterschiede zum Standardwerk der Lexika auf, der Encyclopaedia Britannica. Auch dort seien - etwa bei Angaben zum Geburtsnamen des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton - Fehler enthalten. Eine Steilvorlage für die Wikis, die durchaus reinräumen, dass überall dort, wo Menschen arbeiten, auch Fehler passieren können. Ein Trost findet sich im Wikipedia-Eintrag zum Thema Irrtum. Dort heißt es: "Nicht selten wird ein Irrtum dadurch hervorgerufen, dass nur begrenzte Mittel und Verfahren der Erkenntnis angewendet werden; wenn aber im Prozess der weiteren Untersuchungen vollkommenere Verfahren zur Verfügung stehen, beginnt der Irrtum zu verschwinden, und der Wahrheit wird sich genähert."
Susanne Kailitz
Die Autorin ist Redakteurin bei "Das Parlament".