Lesen Digital
Neue Internetportale machen die Online-Buchsuche möglich. Millionen teils fast vergessene Bücher werden derzeit eingescannt.
Die Vorstellung klingt verlockend. Egal ob man in Tokio sitzt, in einem Strandhaus auf Sylt oder im Studentenwohnheim in der Münchener Innenstadt: Der Gang zur Bibliothek wird nicht mehr nötig sein. Alle Bücher der Welt lassen sich online lesen.
Seit einiger Zeit findet eine Revolution statt: die Digitalisierung des Bibliothekswesens. Seit 2004 ist der Internet-Riese Google dabei, weltweit Millionen von Büchern einzuscannen und sie im Internet unter Google Book Search freizuschalten. Die Universität Michigan war die erste Institution, die ihren Bestand zur Verfügung gestellt und dem US-Konzern sieben Millionen Bände überlassen hat. Mittlerweile sitzen 14 Institutionen mit im Boot, darunter auch die renommierten Universitätsbibliotheken von Harvard, Stanford und Princeton und die berühmte Bodleian Library in Oxford.
Am 6. März 2007 gab die Bayerische Staatsbibliothek in München bekannt, dass sie als erste deutschsprachige Bibliothek mit dem Google-Projekt kooperieren werde. Bisher mussten Wissenschaftler zur Recherche nach München anreisen, sagt Peter Schnitzlein, Sprecher der Bayerischen Staatsbibliothek. Künftig könnten sie von überall auf der Welt auf die Bestände zugreifen. "Das wird das Aneignen von Wissen massiv beschleunigen."
So sieht es auch Stefan Keuchel, Sprecher von Google Deutschland. Google-Doktrin sei es, Informationen der gesamten Welt den Nutzern auch weltweit zugänglich zu machen. Bei dem Mammutprojekt gehe es "um die langfristige Investition", nicht nur Webseiten, sondern alle Quellen abrufbar zu machen. Dazu gehörten eben auch Bücher.
Google Book Search speist sich aus zwei Säulen: Der Internetriese kooperiert mit Verlagen, die freiwillig eine Auswahl ihrer Bestände zur Digitalisierung zur Verfügung stellen. Dieses Verfahren ist nicht weiter kontrovers. Denn der Nutzer kann maximal 20 Prozent des Buches einsehen. Auf dieser Basis kooperiert Google nach eigenen Angaben inzwischen weltweit mit mehr als 10.000 Verlagen. "In diesem Fall ist es keine Suchmaschine, sondern mehr eine Findermaschine", so Keuchel.
Juristisch umstritten hingegen war zumindest zu Beginn die zweite Säule. Unter dem Projektnamen Google Library wollte die Firma aus Kalifornien die Werke ohne Zustimmung der einstigen Rechteinhaber massenweise einscannen. Es dauerte nicht lange und von Seiten der Autoren und Verleger hagelte es Klagen. Diese brachten den Konzern im November 2005 dazu, das Scannen von urheberrechtlich geschützten Büchern in den USA auszusetzen. Seitdem begnügt sich die Firma zunächst mit den Beständen, die älter als 70 Jahre sind und bei denen die Urheberrechte damit nicht mehr greifen.
Deshalb stellt auch die Bayerische Staatsbibliothek nur rund eine Million von ihren insgesamt neun Millionen Büchern zur Verfügung: Es handele sich vor allem um historische Bestände und Werke aus Spezialsammlungen, die zwischen 1501 bis ungefähr 1920 erschienen sind, sagt Bibliothekssprecher Schnitzlein. Besonders kostbare Inkunabeln und historische Handschriften würden zudem per Hand im eigenen Digitalisierungszentrum eingescannt.
Die Zusammenarbeit mit Google hat für die Bibliotheken den Vorteil, dass der Konzern auf eigene Kosten Millionen alter Bücher und Schriften elektronisch konserviert. Google habe ein Verfahren entwickelt, mit dem in knapp einem Jahr mehr Bücher digitalisiert werden könnten, als Bibliothekare nach bisherigen Verfahren in zwölf Jahren schaffen würden, sagt Schnitzlein.
Über das genaue technische Verfahren herrscht indes absolutes Stillschweigen. Aus Furcht vor Nachahmern hat Google alle Beteiligten zu höchster Geheimhaltung verdonnert. Bekannt ist nur, dass so genannte Scanmaschinen in streng abgeschirmten Räumen die Bücher einziehen.
Die mangelnde Transparenz ist jedoch nicht die einzige Kritik. Erste regelmäßige Nutzer beschweren sich über die zum Teil schlechte Qualität der eingescannten Dokumente. Auf einigen Seiten seien Unterarme zu sehen, andere Seiten unlesbar, berichtet ein regelmäßiger Nutzer. "Unser Firmenmotto lautet: Projekte lieber erst starten und sie im Laufe der Zeit zu optimieren", rechtfertigt sich Google-Sprecher Keuchel. Google selbst spricht daher auch immer noch von einem "Beta-Projekt", das einer ständigen Überarbeitung bedürfe. Schnitzlein von der Bayerischen Staatsbibliothek betont, dass sich nach einigen Anfangsschwierigkeiten die Qualität bereits nach nur wenigen Monaten deutlich verbessert habe. Und auch Barbara Schneider-Kempf, Generaldirektorin der Berliner Staatsbibliothek, spricht von "Kinderkrankheiten", die wohl schnell behoben werden. Sie bedauert, dass nicht ihre Bibliothek von Google ausgewählt wurde, glaubt aber, dass in nicht allzu langer Zeit auch wertvolle Bestände aus ihren Beständen online abrufbar sein werden.
Das Google-Projekt ist nicht das einzige seiner Art. Bereits 1971 erfand der US-Amerikaner Michael Hart das "Project Gutenberg". An das Internet hatte er damals zwar noch nicht gedacht, aber schon begonnen, Bücher in "eBooks" elektronisch zu erfassen. Von eBooks redet heute zwar keiner mehr, doch das Gutenberg-Project gibt es weiterhin - im Netz.
Die Betreiber des über Spenden finanzierten Projekts haben nicht so sehr kommerzielle, sondern idealistische Motive: Alle Werke, deren Urheberrecht abgelaufen ist, gehören zum Allgemeingut. Entsprechend müssten sie für jeden frei zugänglich sein. Der Bestand ist mit derzeit rund 40.000 Bändern längst nicht so groß wie der, den Google anstrebt. Beim Gutenberg-Project finden sich vor allem internationale Klassiker. Ganz oben auf der Download-Liste: "Die Notizbücher von Leonardo Da Vinci".
Bewusst namensähnlich, dennoch nicht identisch mit dem Projekt von Hart ist das deutschsprachige Gutenberg.de. Bereits im März 1994 ins Netz gestellt, wird Gutenberg.de seit 2002 von "Spiegel Online" präsentiert. Aktuell finden sich im Archiv fast 4.000 Bücher von mehr als 1.000 Autoren, die online gelesen oder ausgedruckt werden können. Einst als Freizeitprojekt gestartet, hat es sich zur größten Online-Literatursammlung deutscher Sprache entwickelt.
Doch was wird aus all den gebundenen Büchern, wenn auch die letzten Worte eingescannt sind und von überall auf der Welt online abrufbar sind? Werden die großen Bibliotheken letztlich zum Opfer ihres eigenen Engagements? Hans-Jörg Lieder von der Berliner Staatsbibliothek glaubt nicht an das Ende der Bibliothek "in seiner physikalischen Form": Zum einen seien die Bestände nicht deckungsgleich. Zum anderen werde es auch künftig Wissenschaftler geben, die die Originaldokumente in der Hand halten wollen. Die neue Technik sei eine Ergänzung, aber kein Ersatz. Auch Schnitzlein denkt nicht an ein Ende des Buchzeitalters: "Die Bibliothek bleibt als Lernort wichtig", meint er, und vermutet, ganz im Gegenteil, sogar einen verstärkenden Effekt: Noch nie habe es in der Bayerischen Staatsbibliothek einen solchen Besucherzuwachs gegeben wie in den vergangenen Jahren. Viele Bücher, die seit Jahrzehnten wie in einem Dornröschenschlaf in den hintersten Regalen verstaubt waren, würden über das Online-Angebot wiederentdeckt. "Außerdem recherchieren nun auch im fernen Japan die Wissenschaftler in unserem Bestand", sagt Schnitzlein. Und das führe vielleicht dazu, dass sie irgendwann auch einmal persönlich in München vorbeikommen. Felix Lee
Der Autor ist Redakteur bei der "tageszeitung" (taz) in Berlin.