Sicherheitsdoktrin
Seit Januar diskutieren russische Experten über neue Konzepte. Einige kritisieren Reaktionen auf die US-Raketenabwehrpläne in Europa als hysterisch.
Im letzten Amtsjahr seiner Präsidentschaft legt Wladimir Putin einen starken Akzent auf die russische Sicherheitspolitik: So hat er eine Diskussion über Russlands Rolle in der Weltpolitik initiiert, die in einem neuen "Nationalen Sicherheitskonzept" und einer aktualisierten Militärdoktrin münden soll. Bei einer Tagung der Akademie der Militärwissenschaften in Moskau am 20. Januar 2007 präsentierte der Generalstabschef, General Jurij Balujewskij, unter dem Motto "Starke Armee - starkes Russland", sein Konzept. Es wurde ausführlich in der Moskauer Fachzeitung "Nezavisimoje voennoe obozrenie" (NVO, Unabhängige Militär-Rundschau) dokumentiert. Aus Sicht Balujewskijs entwickelt sich die militärisch-politische Situation "nicht zu Gunsten Russlands". Ungeachtet der "Zusammenarbeit mit dem Westen hat die militärische Bedrohung Russlands nicht nachgelassen". Die Hauptgefahr komme aus den USA, die "einen Kurs der Weltbeherrschung führen und die Gebiete, in denen Russland traditionell präsent war, zu übernehmen" suchten. Als weitere Bedrohungen führte er "die Osterweiterung der Nato" und die "lokalen Konflikte in Russlands Nachbarschaft" an. Auch habe sich "der feindliche Informationskrieg gegenüber Russland verstärkt", so der General.
"Die Nuklearwaffe bleibt für Russland das radikalste und billigste Mittel, um die Sicherheit des Landes zu garantieren", meinte wiederum der Vizepräsident der Akademie für Militärwissenschaften, General-Oberst Warfolomej Korobuschin. Sie benötige wenig Personal und die Technologie müsse nur gelegentlich auf den neuesten Stand gebracht werden. Deshalb blieben die Atomwaffen das wichtigste Element der Landesverteidigung und dürften auf keinen Fall reduziert werden. Sollte sich Russland auf einen Abbau des für die nukleare Abschreckung notwendigen Potenzials einlassen, wäre "die Rückstufung von Russlands geopolitischem Status" die unmittelbare Folge. Im Rahmen der Diskussion über die Militärdoktrin wurde auch auf die unumstrittene Führung der USA in Bezug auf Militäreinsätze im All hingewiesen.
Neben positiven Stimmen wurde das Konzept der Militärdoktrin in der "NVO" scharf kritisiert. So mahnte Oberst Georgij Koliwanow, solange Russland nicht "deutlicher seine Politik der Freundschaften und Feindschaften gegenüber dem nahen und fernen Ausland" definiere, dürfe es gar keine Militärdoktrin haben. Koliwanow wies darauf hin, dass es eine riesige Kluft zwischen der "innerrussischen Selbstdarstellung und dem Bild gibt, das im Ausland über Russland" existiere. Andrej Kalich vom "Zentrum für Demokratie und Menschenrechte" warf den Generälen vor, schon wieder an einem Feindbild zu basteln: Alles, was sich im postsowjetischen Raum und außerhalb der Kontrolle des Kremls ereigne, werde als Verschwörung der Feinde Russlands dargestellt. Folge man der Logik der Generäle, seien ausgerechnet die unabhängigen Medien und Menschenrechtsorganisationen "Mittel der feindlichen Informationstätigkeit". Demgegenüber sprach sich Kalich dafür aus, nicht allein den "Falken", also den Generälen und dem Verteidigungsministerium, die Ausarbeitung des sicherheitspolitischen Konzeptes zu überlassen. Ansonsten werde die Liste der "Feinde Russlands" immer länger.
Daneben führen die russischen Sicherheitspolitiker und Wissenschaftler eine intensive und offene Diskussion über mögliche Antworten auf die geplanten US-Raketenabwehrpläne. Wiederum dokumentierte die "NVO" den bisherigen Debattenverlauf akribisch. Während renommierte russische Experten ihre Argumente sachlich austauschten, verbreiteten Militärangehörige und Regierungsvertreter eine "militärisch-paranoide Stimmung", kritisierte Sicherheitsexperte Pawel Solotarjow. So wurde von offizieller Seite mehrmals mit der einseitigen Kündigung des INF-Vertrages (Washingtoner Vertrag über das Verbot der Produktion nuklearer Mittelstreckensysteme) gedroht, den die Sowjetunion und die USA am 8. Dezember 1987 unterzeichnet hatten. Präsident Putin wies im Februar in München auf diese mögliche Reaktion hin. Auch Generalstabschef Balujewskij begründete die Stationierung von russischen Mittelstreckenraketen mit den US-Raketenabwehrplänen in Europa. Der Befehlshaber der Strategischen Raketentruppen, Generaloberst Nikolaj Solowzow, sekundierte, indem er eine Aufrüstung seiner Regimente mit Mittelstreckenraketen begrüßte.
"Mit der Kündigung des INF-Vertrages würde Russland seine Verteidigung schwächen, nicht stärken", meint hingegen Sergej Rogow, Präsidentenberater und Direktor des renommierten Instituts für USA und Kanada der Akademie der Wissenschaften. Im Gegensatz zu Russland hätten die USA keine finanziellen Probleme, rasch neue Mittelstreckenraketen zu produzieren. Folglich bedeute die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen um Russland herum "eine tödliche Gefahr". Deshalb empfiehlt Rogow eine Fortsetzung des sicherheitspolitischen Dialogs mit Washington und fordert einen Verzicht auf den Konfrontationskurs. "Unter dem Einfluss der Pentagon-Propaganda" solle Russland nicht hysterisch reagieren, so wie die sowjetische politische und militärische Führung vor 25 Jahren im Rahmen des SDI-Programms. Damals hätten die sowjetischen Militärs die amerikanischen Zeichentrickfilme über Raketen abschießende Laser allzu ernst genommen, mahnt der Wissenschaftler. Tatsächlich würden die USA erst in 20 bis 25 Jahren im Stande sein, einige Hundert Sprengköpfe abzufangen. Daher plädiert Rogow für eine Fortsetzung der Verhandlungen über die Raketenabwehrpläne im Russland-Nato-Rat. Der Leiter des Zentrums für Internationale Sicherheit der Akademie der Wissenschaften, Alexei Arbatow, sieht ebenfalls keinen Grund, den INF-Vertrag aufzugeben. Die US-Raketenabwehrpläne in Osteuropa bewertet er als gegen Russland gerichtete "offensichtliche politische Provokation". Der Experte schließt nicht aus, dass Washington absichtlich die Kündigung des INF-Vertrages herbeiführen wolle, da die Folgen für die Sicherheitslage Russlands extrem negativ wären. Dabei hätten die russischen Militärs selbst wiederholt erklärt, dass die US-Raketenabwehr auf keinen Fall Russlands nukleares Potenzial bedrohe. Schließlich fliegen die gegen die USA abgefeuerten russischen Raketen über den Nordpol, so dass die amerikanische Abfangstation in Polen einen russischen Angriff nicht verhindern könnte. Daher bestehe auch kein Grund, Washington die "Zerstörung des strategischen Gleichgewichtes" vorzuwerfen.
Laut Arbatow bestünde die einzige "vernünftige Erklärung" für die Kündigung des INF-Vertrages in einer "sicherheitspolitischen Bestrafung" der osteuropäischen Staaten. Dagegen spreche aber, dass Russland damit auch andere westeuropäische Staaten treffen würde, zu denen Moskau gute Beziehungen unterhält und unterhalten will. Sollten hingegen die USA direkt das Ziel russischer Reaktionen sein, wäre es aus politischen und militärischen Gründen viel logischer, das wichtige russisch-amerikanische SORT-Abkommen zur Reduzierung der strategischen Offensivwaffen vom 24. Mai 2002 zu kündigen.
Dass die Produktion Hunderter neuer Mittelstreckenraketen und deren Wartung im Interesse einiger militärisch-industrieller Konzerne liegt, weiß der Sicherheitsexperte nur zu gut. Mit der Frage, aus welchen Haushaltstiteln die Raketenpläne finanziert werden sollen, legt er den Finger in die offene Flanke der russischen Regierung. Bereits die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen "Pershing-2" Anfang der 1980er-Jahre wurde als direkte Gefährdung der Sowjetunion betrachtet. Dieses Mal wäre die Bedrohung noch umfassender, da die Nato viel näher an Russlands Grenzen herangerückt ist als zu Zeiten des Kalten Krieges. Heute können die Mittelstreckenraketen nicht nur Moskau erreichen, sondern auch die Ural-Gebiete. Da in diesem Fall das russische Nuklearpotenzial ausgeschaltet werden könnte, müsste der Kreml die nuklearen Streitkräfte unter großem finanziellen Aufwand umstrukturieren.
Obwohl bereits diese Argumente klar gegen eine Kündigung des INF-Vertrages sprechen, fügt Arbatow weitere hinzu: Diese harsche Reaktion Moskaus würde die europäischen Nato-Mitglieder wieder enger an die USA heranführen und das antirussische Fundament stärken, indem neue Nato-Mitglieder aus dem postsowjetischen Raum aufgenommen würden. Angesichts dieser Szenarien ist sich der Wissenschaftler sicher, dass die USA insgeheim die Kündigung des INF-Vertrages durch Russland begrüßt hätten. Dass das Weiße Haus und das Pentagon "äußerlich gleichgültig" auf die Erklärungen aus Moskau reagierten, wertet er als starken Beleg für seine These.
Wladimir Belous, Generalmajor a. D. und Autor zahlreicher militärischer Fachbücher, hält eine russisch-amerikanische Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr für unmöglich. Russland verfügt über 762 Trägersysteme mit 3.373 Nuklearsprengköpfen, die USA besitzen 986 Trägersysteme mit 4.116 Sprengköpfen, die beide Staaten primär gegeneinander richten. Unter diesen Bedingungen sei "eine gemeinsame Raketenabwehr unrealistisch".
Wenn man gerade keinen Feind hat, zaubert man sich einen herbei. Diesem Motto folge derzeit die russische politische und militärische Führung, kritisierte Militärexperte Viktor Mjasnikow. Zugleich erinnerte er daran, dass sich der Kreml bereits einmal erfolgreich dem "teuren Wettbewerb mit den USA im Bereich der Raketenabwehr" entzogen habe, nachdem Russlands "Bauchnarbe" beim Rüstungswettbewerb geplatzt sei. Im Einzelnen wirft er den Generälen und Managern aus dem militärisch-industriellen Komplex vor, ihre Profite aus der neuen "amerikanischen Bedrohung" zu ziehen. Die Politiker spielten dabei mit und missbrauchten die US-Raketenabwehrpläne zur "Konsolidierung des Volkes". Denn sonst habe der Kreml den Menschen nichts zu bieten. "Der gemeinsame Feind verbindet stärker als irgendwelche Freunde".