Russland
Das Verhältnis zwischen Moskau und seinen Nachbarn an der Ostsee ist kompliziert. Doch trotz aller Spannungen ist man aufeinander angewiesen.
Russland ist der einzige Ostsee-Anrainer, der nicht zur EU gehört. Noch in den 90er-Jahren verrotteten die Häfen und das Land verkaufte seine Handelsschiffe. Doch inzwischen ist wieder Geld da und man investiert es im großen Stil im russischen Nordwesten. Russland möchte so viel wie möglich seines Außenhandels über die eigenen Häfen abwickeln. Dafür wird der Hafen von St. Petersburg modernisiert; der nicht weit von der Grenze zu Estland gelegene Hafen Ust Luga soll zum größten russischen Containerhafen ausgebaut werden. Außerdem will Russland im Finnischen Meerbusen eine moderne Ölraffinerie und einen Terminal für den Export von Flüssiggas bauen.
Das Nachsehen haben die baltischen Staaten, über deren Häfen bisher der Großteil der russischen Ölprodukte in Richtung Westen verschifft wurde. Das scheint Moskau ganz Recht zu sein, denn Estland, Lettland und Litauen - so die russische Sichtweise - zeigten Moskau mit ihrem Nato-Beitritt 2004 die kalte Schulter. Doch Spannungen gab es bereits in den 90er-Jahren. Die russischen Ölprodukte wurden damals nur deshalb über die baltischen Häfen exportiert, weil Russland selbst noch nicht genug Kapazitäten hatte.
Gegen den EU-Beitritt der baltischen Staaten hatte Moskau keine Einwände, den Beitritt zur Nato hat man aber bis heute nicht verdaut. Selbst wenn von der Nato für Russland keine Bedrohung ausgeht, ist man doch über das Heranrücken der Allianz an die russische Grenze nicht erfreut. Das zeigt die politische Führung auch. Spätestens seit dem Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine, der im Januar 2006 mit Gasabschaltungen durch Russland seinen Höhepunkt erreichte, ist klar, dass Nachbarstaaten, die Anschluss an die Nato suchen, nicht mehr mit Handelsprivilegien zu rechnen brauchen. Gegenüber den baltischen Staaten fährt Moskau zudem eine Politik der Nadelstiche. Die Botschaft: Zuviel Selbstbewusstsein vor Russlands Westgrenze ist unerwünscht.
Von einem neuen Kalten Krieg zu sprechen, wäre jedoch übertrieben. Obwohl in den deutschen Medien bisweilen dieser Eindruck entsteht - eine wie auch immer geartete Frontlinie zwischen Russland und der EU gibt es nicht. Im Gegenteil, die Lage ist unübersichtlich. Einige Beispiele: Die Menschen in Kaliningrad fühlen sich als Russen, sie möchten aber auf ihre Reiseprivilegien in EU-Staaten nicht verzichten. In den baltischen Republiken gibt es nicht nur viele finnische, schwedische und deutsche, sondern auch zahlreiche russische Investoren. An der lettischen Elektrizitätsgesellschaft Latvijas Gaze ist neben E.ON Ruhrgas die russische Gazprom mit 34 Prozent beteiligt. Der Handel allgemein sucht seine Wege unabhängig davon, welche Länder zur Nato gehören und welche nicht. Die Ostsee selbst ist eine Autobahn für den deutschen Export nach Russland und umgekehrt.
Doch dass Russland seine wirtschaftliche Macht stärken will, ist unbestreitbar. Schon 2001 nahm man, um von den baltischen Staaten unabhängig zu werden, in Primorsk, nordwestlich von St. Petersburg, einen neuen Ölterminal in Betrieb. Präsident Wladimir Putin hat angewiesen, diese Kapazitäten weiter auszubauen. Im vergangenen Jahr wurden über Primorsk bereits 66 Millionen Tonnen Öl umgeschlagen. Putin hat außerdem den Bau einer Pipeline angeordnet, die den Ölterminal Primorsk mit der Druschba-Ölpipeline verbindet. Mit dieser Pipeline möchte man unabhängiger werden von dem weißrussischen Präsidenten Aleksandr Lukaschenko, der beim Streit mit Russland um den Ölpreis im Januar dieses Jahres Öl aus der Druschba-Pipeline ab-zapfte. Wladislaw Below, Deutschland-Experte des Moskauer Europa-Instituts, sieht in der Ersatz-Pipeline nichts Unanständiges: "Die EU spricht von einer Diversifizierung von Quellen, Russland spricht von einer Diversifizierung von Transportwegen. Je mehr Transportwege es gibt, desto besser für Europa." Und der Vorsitzende des russischen Verteidigungsrates und Putin-Berater Sergej Karaganow meint, es gehe darum, "dass man keine überflüssigen Transitkosten zahlt. Das sind einfache wirtschaftliche Überlegungen."
Deutschland wird als wichtigster Außenhandelspartner von Moskau umworben. Dabei ist Russland der zur Zeit am schnellsten wachsende Exportmarkt Deutschlands. Im ersten Quartal dieses Jahres stiegen die deutschen Ausfuhren nach Russland gegenüber dem Vorjahreszeitraum um ein Drittel auf rund 6 Milliarden Euro. Der wichtigste russische Hafen für den Handel mit Deutschland ist St. Petersburg. Doch er "ist verstopft"; die veralteten Anlagen seien dem Ansturm nicht gewachsen, erklärt Waldemar Lichter, Russland-Experte der Bundesagentur für Außenwirtschaft. Deutsche Exporteure weichen deshalb auf finnische Häfen wie Kotka aus. Von Finnland geht die Ware dann per Lkw nach Russland.
Dass Europa wiederum mit Russland in unterschiedlichen Tonlagen spricht, wird nirgendwo so deutlich wie im Baltikum. Die Präsidenten der baltischen Staaten fordern immer noch, Moskau solle anerkennen, dass die Staaten 1939/40 von der Sowjetunion annektiert wurden. Man fordert Entschädigungszahlungen. Doch die russische Elite wischt derartige Forderungen als "Minderwertigkeitskomplex" der Balten vom Tisch. Putin-Berater Karaganow sagt es geradeheraus: "Wir sind kein Arzt im psychatrischen Krankenhaus." Deutschland-Experte Below drückt sich zurückhaltender aus. "Die baltischen Staaten versuchen, aus der Vergangenheit Vorteile zu ziehen."
Die baltische Speerspitze gegen Russland ist zurzeit Estland. Dass Ministerpräsident Andrus Ansip das Denkmal des "bronzenen Soldaten" zwei Wochen vor dem Jahrestag des sowjetischen Sieges im Zweiten Weltkrieg abbauen ließ, war ein bewusster Affront. Vermutlich wollte die Regierung in Tallinn die EU mit diesem Schritt zum Schulterschluss zwingen. Als EU und Nato der estnischen Regierung dann Unterstützung im Denkmalstreit zusicherten, war man dort sichtlich zufrieden.
Nur am Rande fand man in deutschen Medien Kritik über die Art und Weise, wie die estnische Regierung den Konflikt um das Denkmal löste. Häufig wurde behauptet, dass die Esten in dem Denkmal "ein Symbol der sowjetischen Okkupation" sehen würden. Nichtsdestotrotz waren nach einer Umfrage der Zeitung "Eesti Päevaleht" 49 Prozent der Esten gegen eine Versetzung des "bronzenen Soldaten" und lediglich 37 Prozent dafür. Die Umfrage wurde von den meisten deutschen Medien unterschlagen. Und die Stimme von Edgar Savisaar, ehemaliger Präsident Estlands und jetzt Bürgermeister von Tallinn, der im Denkmal-Konflikt für einen Dialog mit der russischen Minderheit warb, wurde völlig überhört.
Zu der eindeutigen Haltung des Westens hat auch Russland beigetragen. Es hat sich - wie schon beim Gas-Streit mit der Ukraine - durch übertrieben hartes Auftreten selbst geschadet. Das wird inzwischen auch eingestanden. Sergej Karaganow meint, es sei ein Fehler gewesen, dass die russische Regierung die Belagerung der estnischen Botschaft durch eine Kreml-nahe Jugendorganisation zugelassen hat. Und Wladislaw Below erklärt: "Die estnische Seite begann mit der Zuspitzung. Aber ich glaube, die russische Seite hätte den Konflikt auch gescheiter lösen können." Letztlich hat Russland mit seinem lauten Auftreten den Ängsten vor einer harten Machtpolitik neue Nahrung gegeben.
Auch die späteren Moskauer Reaktionen auf die Denkmal-Verlegung waren maßlos. Es begann eine Serie von Nadelstichen gegen Estland: Durch einen mysteriösen Hackerangriff wurden die Computer der estnischen Banken und der Regierung lahmgelegt. Eine angeblich reparatur- bedürftige Grenzbrücke nach Estland wurde plötzlich für Lkw gesperrt. Die russische Eisenbahngesellschaft erklärte, man werde den Eisenbahnverkehr zwischen St. Petersburg und Tallinn wegen mangelnder Nachfrage einstellen. Die Brücke wurde dann wieder geöffnet und auch die Ankündigung der Streckenstilllegung wurde zurückgenommen. Solche Nadelstiche gibt es immer wieder, auch gegenüber Litauen. Als es im Juli vergangenen Jahres zu einem Leck in der Druschba-Ölpipeline kam - mit der Pipeline wird Deutschland, aber auch Litauen versorgt -, nutzte der russische Pipeline-Konzern Transneft den Umstand für Reparaturarbeiten, die angeblich immer noch nicht abgeschlossen sind. Die litauische Seite verfügt allerdings über Angaben, nach denen die Pipeline längst wieder funktionsfähig sei. Die litauische Ölraffinerie AO Mazeikiu Nafta wird jetzt über Tanker mit russischem Rohöl versorgt.
Die baltischen Staaten versuchen, auf die ökonomische Expansion Russlands zu reagieren. Was die Gasverssorgung betrifft, sind sie zu 100 Prozent von Russland abhängig. Doch um zumindest vom russischen Stromnetz unabhängig zu werden, sind stärkere Verbindungen mit dem Netzen Polens und Finnlands geplant. Estland hat bereits ein Stromkabel nach Finnland gelegt.
Die mittlere der Baltenrepubliken, Lettland, bemüht sich um ein ausgeglichenes Verhältnis zu Russland. Den Grenzvertrag mit Russland hat man ratifiziert. Er muss jetzt von der russischen Duma bestätigt werden. Riga habe seine Gegnerschaft zur Ostsee-Pipeline aufgegeben, meint der lettische Politologe Aleksandr Wasiljew. Es gäbe Pläne, Lettland mit der Ostsee-Pipeline zu verbinden.
Insgesamt ist Moskaus Tonlage gegenüber dem neuen Europa hart und unversöhnlich. Der Kritik der baltischen Staaten und von Polen an der Ostseepipeline entgegnet Putin-Berater Karagonow bissig: "Eine Ostseepipeline, die nicht von Kaczynski und Lukaschenko abhängt, stärkt die Energiesicherheit Europas." Und eigentlich, so fügt er hinzu, hätten die Polen "nur Angst, dass sie nichts mehr an den Transitkosten für russisches Gas verdienen". Doch mit seiner harten und herablassenden Haltung gegenüber Polen und Estland behindert Russland seine Annäherung an Europa. Zudem versucht Moskau Deutschland auf einen Pfad zu locken, der vielleicht im zentralistisch geführten Russland funktioniert, für eine EU mit gleichberechtigten Partnern aber tödlich ist. Deutschland kann sich - etwa im Energiesektor - auf keine Sonderbeziehungen zu Russland einlassen, ohne das Vertrauen gegenüber den neuen EU-Mitgliedern im Osten zu stören.
Der Autor arbeitet als Korrespondent in Moskau unter anderem für die "Sächsische Zeitung" und den "Rheinischen Merkur".