ZUWANDERUNG
Die EU möchte mehr qualifizierte Migranten anwerben. Doch die Mitgliedsländer zeigen sich reserviert.
Eigentlich wollte EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso den Kritikern der Blue Card von Anfang an den Wind aus den Segeln nehmen. Er versuchte daher in seiner Pressekonferenz am 23. Oktober in Straßburg die Vorbehalte der EU-Regierungen gegen die neuen Zuwanderungsregeln auszuräumen. "Ich kündige heute nicht an, dass wir die Türen für zwanzig Millionen hochqualifizierte Arbeiter öffnen! Die Blue Card ist kein Blankoscheck!", versicherte er. Damit werde kein Zugangsrecht für Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten begründet, sondern es handle sich um ein "an der Nachfrage orientiertes Konzept".
Dennoch hat die EU-Kommission mit ihren zwei Vorschlägen für eine EU-weit einheitliche Arbeitserlaubnis für hochqualifizierte Zuwanderer und sozialen Mindestrechten für alle Zuwanderer gemischte Reaktionen ausgelöst. Während die deutschen Indus-
trieverbände den Gesetzentwurf sehr positiv aufnahmen, reagierten deutsche Regierungsvertreter zurückhaltend. Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) sagte in einem Interview, Deutschland habe in Sachen Zuwanderung Hochqualifizierter "seinen eigenen Fahrplan". Bildung und Weiterbildung von deutschen Arbeitnehmern hätten Vorrang. Ähnlich äußerte sich die neue bayerische Wirtschaftsministerin Emilia Müller, die früher im Europaparlament saß: In ihrem Bundesland gebe es 315.000 Arbeitslose. Die Beschäftigung von Frauen und älteren Arbeitnehmern müsse Vorrang haben vor Zuwanderung aus dem Ausland.
Nach den neuen Regelungen sollen allerdings nur das Zulassungsverfahren, die formalen Voraussetzungen und soziale Mindestrechte für hochqualifizierte Zuwanderer harmonisiert werden. Es geht bei diesen Stellen um Bewerber, die einen Hochschulabschluss oder drei Jahre Berufserfahrung nachweisen können und deren Gehalt mindestens drei Mal so hoch sein muss wie die Sozialhilfeschwelle. Alle Formalitäten sollen in einer einzigen Behörde erledigt werden können. Innerhalb von drei Monaten muss der Bewerber eine Antwort erhalten.
Kommt kein EU-Bürger für die Stelle in Frage, gilt die Blue Card zunächst für zwei Jahre, kann dann aber verlängert werden. Nach zwei Jahren kann sich der Einwanderer auch in anderen EU-Ländern bewerben, ohne erneut eine Arbeitserlaubnis beantragen zu müssen. Nach fünf Jahren erwirbt er ein Recht auf dauerhaften Aufenthalt. Auch Familienangehörigen steht ein Aufenthaltsrecht zu. Über entsprechende Anträge muss die Behörde innerhalb von sechs Monaten entscheiden.
Um die Migranten zu ermutigen, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten auch in der Heimat einzusetzen, ist eine zeitweise Rückkehr möglich, ohne dass der in Europa erworbene Anspruch verloren geht. So könnte zum Beispiel ein Arzt aus dem Senegal, der zwei Jahre in einem Brüsseler Krankenhaus gearbeitet hat, in seiner Heimat junge Mediziner ausbilden. Danach kann er wieder in der EU arbeiten.
Die Entscheidung, ob Zuwanderer gebraucht werden, welche Branchen sich auf dem Weltarbeitsmarkt umsehen dürfen und wie hoch die Quoten sind, treffen weiterhin die Mitgliedstaaten. Der für Einwanderungsfragen zuständige Kommissar Franco Frattini räumte ein, dass es zunächst Widerstand gegen seine Pläne gegeben habe. Österreich habe protestiert. Seit aber klar sei, dass Arbeitsmarktpolitik weiterhin Sache der Mitgliedstaaten bleibe, sei er "zuversichtlich, dass Wien zustimmen wird". Schon in der ersten Dezemberwoche, wenn sich zum ersten Mal die Arbeits- und Innenminister der EU zu einer gemeinsamen Sitzung treffen, will Frattini das Paket vorlegen und auf diese Weise eine vorläufige Einigung erreichen.
Ein zweiter Gesetzesvorschlag regelt die Mindestrechte, die mit einer Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung verbunden sind. Er bezieht sich auf alle berufstätigen Einwanderer, nicht nur auf Hochqualifizierte. Derzeit gibt es in den 27 Mitgliedsstaaten in dieser Frage noch sehr unterschiedliche Ausgangsbedingungen.
Die EU will einheitliche Mindeststandards. Sie betreffen den Mindestlohn, die Gesundheitsversorgung, die Sicherheit am Arbeitsplatz, das Recht auf Bildung und auf Sprachunterricht. Künftig soll ein Diplom, das von einem Mitgliedstaat anerkannt wurde, in der ganzen EU gültig sein. Dabei handle es sich, wie Frattini betonte, um einen "Sockel an Rechten". Jedem Mitgliedstaat stehe es frei, höhere Standards zu schaffen.
So, wie es derzeit aussieht, kann die Kommission mit ihrer zweigleisigen Strategie, nach der die Standards und Verfahren für Arbeitsmigranten in Brüssel festgelegt werden, der Bedarf aber von den Mitgliedstaaten bestimmt wird, die Widerstände nicht ausräumen.
Dabei sprechen die Zahlen für sich. In Australien ist jeder zehnte Beschäftigte ein gut ausgebildeter Einwanderer, in Kanada macht diese Gruppe immerhin 7,3 Prozent der Beschäftigten aus, in der Schweiz 5,3 Prozent. In der EU hingegen sind nur 1,72 Prozent der Beschäftigten gut ausgebildete Migranten. Doch die europäische Wirtschaft braucht Fachleute, nicht Straßenkehrer. Allein in Deutschland fehlten 2006 nach Schätzungen des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft 165.000 Spezialisten.
Vor allem mangelt es an Ingenieuren, Technikern, Informatikern und Fachkräften für die Pharmabranche. "Zuwanderung kann sicherlich nicht den Mangel an Fachkräften beheben, aber lindern", sagte der Präsident des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau in Brüssel. Die Initiative habe nur einen Schönheitsfehler: Sie komme zu spät. Der weltweite Wettbewerb um die besten Köpfe habe längst begonnen.