PARTEITAG
Die Basis billigt den Antrag der Führung zur Grundsicherung
Maigrün waren sie und lagen stapelweise auf den Tischen. Maigrün, die Farbe des Frühlings - also Aufbruch und neue Hoffnung? Vielleicht sollten die Broschüren der Heinrich-Böll-Stiftung den Grünen bei ihrem Parteitag vom 23. bis 25. November in Nürnberg auch Mut machen. Wer dachte, es gehe wegen des grünen Einbandes nur um ökologische Themen, hatte sich getäuscht. Mit dem Titel "Die Zukunft sozialer Sicherung" wies die Grünen-nahe Stiftung auf das Top-Thema der Konferenz hin. Die Partei der Pazifisten und Atomkraftgegner hat sich auf der Suche nach einem neuen Projekt von Hartz IV verabschiedet und ist sich dadurch wieder ein Stück näher gekommen - sagen einige Politikwissenschaftler.
Fünf Stunden hatten die Grünen an dem Samstag debattiert, bevor klar war, dass sich der Bundesvorstand mit seinem Antrag zur Grundsicherung durchgesetzt hatte.
Wochenlang wurde spekuliert, ob die Bundesvorsitzenden Reinhard Bütikofer und Claudia Roth sowie die Fraktionsvorsitzenden Renate Künast und Fritz Kuhn über den Antrag des Landesverbandes Baden-Württemberg stolpern würden. Der hatte ein bedingungsloses Grundeinkommen von zunächst 420 Euro für jeden Bürger gefordert. Damit sollte unter anderem das Arbeitslosengeld ersetzt werden. Wäre die grüne Basis diesem Vorschlag gefolgt, hätten sie das dritte Mal in zwölf Monaten ihre Führung brüskiert.
Mitte September entschieden sie sich auf dem Sonderparteitag in Göttingen gegen den Antrag des Bundesvorstandes. Der wollte den Bundestagsabgeordneten bei der Abstimmung über das Bundeswehr-Mandat für die OEF-Mission freie Wahl zu Zustimmung oder Ablehnung lassen. Vor einem Jahr ließen sie sogar den Vorschlag von Bütikofer und Co. zu einem neuen Partei-Logo durchfallen.
Im Vorfeld wurde deswegen viel verhandelt und geändert. Der grundsätzliche Unterschied zwischen den Sozialprogrammen bleib bestehen: Die Grundsicherung soll aus einem erhöhten Hartz IV-Betrag von 420 Euro bestehen, also nur an Arbeitslose, nicht aber an alle Bürger verteilt werden. Der größte Teil des auf 60 Milliarden Euro geschätzten Programms soll in Bildung und Maßnahmen wie ein kostenloses Essen in Schulen investiert werden.
Unabhängig davon, ob Bundes- und Fraktionsvorsitzende durch die vermiedene dritte Niederlage gestärkt wurden, waren Kommentatoren von Zeitungen, Radio und Fernsehen nahezu einhellig der Meinung, die Grünen hätten den Bezug zur Realität verloren. "Ich halte das Vorhaben realpolitisch für verfehlt", sagte auch der Parteienforscher Wichard Woyke von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster dieser Zeitung. Das Programm sei eindeutig zu teuer. Die Gefahr, dass es sich die Grünen für die kommende Bundestagswahl 2009 mit allen möglichen Koalitionspartnern, vor allem mit den konservativen, verscherzt haben, sieht er weniger. Was bei der Chance auf eine Regierungsbeteiligung von dem Projekt übrig bliebe, sei jetzt nicht abzusehen. Ebenfalls nicht auszuschließen sei eine Koalition mit der Union. "Das müsste sich aber erstmal auf Landesebene beweisen, bevor im Bund darüber nachgedacht werden kann", so Woyke.
Prominente Mitglieder der Grünen sahen das Ergebnis positiv. "Sehr zufrieden" sei er, sagte Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, der sich im Vorfeld zwar für ein Grundeinkommen ausgesprochen, auf dem Parteitag allerdings für die Grundsicherung plädiert hatte. Genauso zufrieden war auch Hans-Christian Ströbele, der mit dem Antrag des Bundesvorstandes die Möglichkeit sah, über eine Reform der sozialen Sicherungssysteme weiter zu diskutieren. "Die Fenster sind weit offen und die Frage, wie die Absicherung in zehn oder 15 Jahren aussehen wird, wurde sicher heute noch nicht endgültig entschieden", so Ströbele.
Auch unter Politikwissenschaftlern gab es positive Meinungen. Ingolfur Blühdorn, Politologe der Universität in Bath in Großbritannien, war extra zum Parteitag angereist und war begeistert vom Verlauf der vielen Debatten. "Es ist wieder möglich, die Grundsatzfrage zu stellen", so Blühdorn. "Das ist wichtig für die Grünen, denn es hilft ihnen, sich nach ihrer Regierungszeit neu zu orientieren." Dieser Ansicht war auch Peter Lösche, emeritierter Professor der Georg-August-Universität Göttingen. "Als programmatischer Beschluss ist die Grundsicherung durchaus sinnvoll." Es sei wichtig für die Grünen, sich zu erneuern, über Koalitionen könne man später sprechen. Nicht zuletzt gebe es "quer durch die Bank" Überlegungen zu einem Grundeinkommen.
In der Tat ist die Idee älter als viele vermuten, auch wenn nicht alle, die über Grundeinkommen sprechen, dasselbe meinen. Milton Friedman etwa schlug in den 60er-Jahren in den USA eine so genannte negative Einkommensteuer vor. Zahle ein Bürger weniger Steuern als ein festgelegtes Minimum, erhalte er die Differenz zu diesem Minimum zurück. Martin Bangemann (FDP), Bundeswirtschaftsminister von 1984 bis 1988, sprach sich für ein Bürgergeld für alle aus. Der Ministerpräsident von Thüringen, Dieter Althaus (CDU), vertritt die Idee eines solidarischen Bürgergeldes von 800 Euro für jeden Erwachsenen. Die Lohnzusatzkosten würden sinken, ist eines seiner Argumente. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung hatte aber kürzlich bemängelt, dass Althaus' Konzept eine Finanzierungslücke von 227 Milliarden Euro in den öffentlichen Haushalten hinterlassen würde.
Von einem Linksruck der Grünen könne
man wegen der Diskussion um Grundeinkommen und -sicherung nicht
sprechen, meinte Claus Leggewie, Direktor des
Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Die Entscheidung für
eine Grundsicherung sei der "Versuch, einen Einstieg in das Denken
in Grundeinkommenskategorien überhaupt zu
ermöglichen".
Ob sich das bei den Grünen durchsetzen lässt, bleibt allerdings fraglich. Knapp 60 Prozent sprachen sich für die Grundsicherung aus - auch aus der Befürchtung heraus, Arbeitsunwilligkeit zu unterstützen. Mit dem Grundeinkommen würde man "den Ausstieg aus dem Erwerbsleben finanzieren", so Gastredner Frank Bsirske, Chef der Gewerkschaft ver.di, selbst Mitglied der Grünen und Unterstützer der Grundsicherung. Viele Delegierte dankten ihm Aussagen wie diese mit Applaus.
Ist der Beschluss zur Grundsicherung also ein Abschied von der Realität, wie Woyke kritisierte? In Nürnberg zeigte sich eine Partei, die über Utopien ernsthaft nachdenken will und nicht in erster Linie über deren Außenwirkung. Zwei Jahre nach dem Ende ihrer Regierungszeit haben die Grünen Konzepte für eine energische Oppositionsarbeit entdeckt. Ob es von dort aus wieder einen Weg auf die Regierungsbank gibt, hat sich noch nicht gezeigt. Im Zweifel gilt Woykes These, wenn Koalitionsverhandlungen anstehen, wird nicht alles dogmatisch gesehen. Die Entscheidung fällt 2009, nicht 2007.