Migration
Neue und differenzierte Ansätze in einer vereinfachte Integrationsdebatte
Noch 1981 betonte Bundeskanzler Helmut Schmidt: "Die Bundesrepublik soll und will kein Einwanderungsland werden." Es mussten weitere fast 20 Jahre vergehen, bis die Bundesrepublik 1999 erstmals offiziell anerkannte, was nicht länger ignoriert werden konnte. Das Land ist, seit der Ankunft der ersten Gastarbeiter in den 1960er-Jahren, längst zu einem Einwanderungsland geworden und muss heute die Folgen einer jahrzehntelangen Fehleinschätzung korrigieren. Daran wird seit Jahren mit Hochdruck gearbeitet: Ein neues Zuwanderungsgesetz, ein Integrationsgipfel im Kanzleramt und die von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im Jahr 2006 initiierte Islamkonferenz sind wichtige Zeichen einer Neuorientierung, die in dem Satz Schäubles "Der Islam ist ein Teil Deutschlands" auf den Punkt gebracht wurde.
Und dennoch: Die Aussage stimmt und sie stimmt auch wieder nicht, wenn es darum geht, inwieweit Menschen muslimischen Glaubens tatsächlich in die Gesellschaft integriert sind. Viele Einheimische betrachten Zuwanderer immer noch als Fremde, Nicht-Dazugehörige. Und viele Zugewanderte grenzen sich über ihre Religion von der Mehrheitsgesellschaft ab.
"Die offene Gesellschaft", so der Titel der von Siegfried Frech und Karl-Heinz Meier-Braun herausgegebenen Aufsatzsammlung, muss daher eher als eine Zielvorgabe denn als eine Beschreibung der Realität verstanden werden. Denn diese, so die Herausgeber in der Einleitung, ist noch weit davon entfernt, eine offene Gesellschaft zu sein. Die Autoren begrüßen zwar die Einberufung der Islamkonferenz, kritisieren aber die von Vereinfachungen bestimmte Integrationsdebatte. Und sie lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie trotz guter Ansätze in den politischen Initiativen der vergangenen Jahre letztlich Bestrebungen erkennen, die zum einen Zuwanderung eher verhindern als fördern und die zum anderen für die Integration hier lebender Ausländer oder Menschen mit "Migrationshintergrund" noch längst nicht ausreichend sind: "Solange es kein politisch klares und vor allem realisierbares Integrationskonzept gibt, wird die Illusion aufrechterhalten, dass alleine schon ein Zuwanderungsgesetz und Sprachkurse eine erfolgreiche Integration gewährleisten könnten."
In diesem kritischen Grundtenor bewegen sich auch die sich anschließenden Aufsätze von Migrationsforschern. Ihnen geht es zwar nicht primär ums Politische. Indem sie sich aber auf eine Soziologie der Migration konzentrieren, bieten sie Handlungsoptionen für die Politik an - die allerdings von bisherigen Diskussionsgrundlagen abweichen und deshalb die Debatte zweifellos um nötige Differenzierungen bereichern: Da wird zum Beispiel, ausgehend von neuen wissenschaftlichen Untersuchungen, dafür plädiert, die Defizitannahme hinsichtlich der sprachlichen Kompetenzen von Migrantenkindern zu überwinden und Bedingungen zu schaffen, unter denen sich das Lernpotenzial dieser Kinder optimal entfalten kann. Korrigert wird ebenfalls die Vorstellung, man könne den Alterungsprozess der Gesellschaft über Zuwanderung verhindern. Eine Lücke in der Debatte schließt auch ein Beitrag zum Wahlverhalten von Migranten, das bisher noch nicht in dieser Detailliertheit beschrieben wurde.
Auch weil dieser Begriff in der öffentlichen Debatte so eine enorme Signalwirkung erreicht hat, hebt sich die Analyse von Matthias Micus und Franz Walter über "Parallelgesellschaften" aus der Aufsatzsammlung hervor. Entgegen dem mit Parallelgesellschaften gemeinhin verbundenen Schreckens- bild einer, zumeist islamistischen, Bedrohung liefern sie, ohne die Risiken zu verschweigen, eine nüchterne Definition des Begriffs und zeigen am Beispiel der Ruhrpolen, warum Parallelgesellschaften "als Brücke in die Mehrheitsgesellschaft" sehr wohl nützlich für die Integration sein können. Ihr überraschendes Fazit lautet deshalb: Es gibt in Deutschland nicht zu viele, sondern zu wenige parallelgesellschaftliche Strukturen.
Die offene Gesellschaft. Zuwanderung und Integration.
Wochenschau, Schwalbach 2007; 256 S., 16,80 ¤