Kritisch
Seyran Ates über drei türkische Generationen in der Bundesrepublik - eine ungeschminkte Bestandsaufnahme
Seyran Ates ist eine Frau, ohne die in Deutschland weit weniger qualifiziert über den Islam und Integration diskutiert würde. Seit Jahren streitet die Berliner Rechtsanwältin für die Rechte von muslimischen Frauen. Und ihr ist es zu verdanken, dass inzwischen offen ausgesprochen wird, wie es Frauen ergeht, die in Abhängigkeit von einer Familie und ohne die Chance, ihr zu entfliehen, in Deutschland leben - nämlich nicht selten als Opfer häuslicher Gewalt, im schlimmsten Fall sogar als Opfer eines so genannten "Ehrenmordes".
Die Juristin kennt das Leben als Migrantin in Deutschland sehr gut. Als Sechsjährige kam sie 1969 mit ihren Eltern aus der Türkei nach Berlin. Dass das nicht reicht, um anerkannt zu werden, kann, wer zu ihrem jüngst erschienenen Buch "Der Multikulti-Irrtum" greift, im allerersten Satz lesen: "Jeden Sommer werde ich von vielen Deutschen gefragt, ob ich dieses Jahr wieder in meine Heimat fahre."
Seyran Ates ist eine der profiliertesten islamkritischen Stimmen in Deutschland. Sie ist aber auch eine treffsichere Kritikerin des jahrzehntelangen Versagens der deutschen Politik und der Gesellschaft, die Zuwanderer angemessen aufzunehmen. Ausgehend von ihrer Person, aber immer mit dem Blick aufs große Ganze, zeichnet sie ein eindrucksvolles Porträt der inzwischen drei Generationen "Deutschländer". Lebhaft erinnert sie sich an den Umgang mit der Generation ihrer Eltern, den Gastarbeitern, mit denen vor allem "Tarzan-Deutsch" gesprochen wurde: "Du machen deine Arbeit, dann du bekommen dein Geld." Eindrücklich wühlt sie in ihrer eigenen Geschichte; sinniert darüber, warum so viele ihrer Spielkameraden in Hilfsarbeiterjobs landeten und so wenige ein Studium aufnahmen. Eindringlich warnt sie vor einem Abrutschen der dritten Generation. Ausgelöst durch die "ausweglosen Sozialhilfekarrieren ihrer Eltern" wüchsen tausende Jugendliche mit der Einstellung auf, "dass sie in Deutschland weder erwünscht sind noch gebraucht werden".
In einer klaren Sprache, ohne jeden Anflug von Sentimentalität, Selbstmitleid oder Süffisanz, analysiert Seyran Ates die Verhältnisse, in denen die türkische Community miteinander, aber auch inmitten eines ihnen immer noch fremden Landes lebt. Das Festhalten an überkommenen islamischen oder pseudo-islamischen Riten und Gewohnheiten kritisiert sie ebenso wie die Vorstellung mancher Deutschen, die Gewohnheiten der "Anderen" seien kulturrelativistisch irgendwie zu rechtfertigen: nach dem Motto, wer aus einem fremden Land komme, müsse seine Gewohnheiten beibehalten können. "Multikulti-Deutsche" sind ihr genauso zuwider wie all jene, die Einwanderung auch nach 50 Jahren nicht als Realität anerkennen.
So ist "Der Multikulti-Irrtum" auch ein flammendes Plädoyer gegen falsche Akzeptanz. Mit dieser, so argumentiert Seyran Ates mit Verweis auf den Mord an dem islamkritischen Regisseur Theo van Gogh, seien bereits die Niederlande grandios gescheitert. Statt sie zu entschuldigen, fordert sie, müsse mit der zweiten Generation "Tacheles geredet" werden: Aus ihren Reihen nämlich "stammen die Kulturchauvinisten in den islamischen Verbänden und die Hassprediger, die Eltern, die ihre Töchter vom Schulunterricht befreien und zwangsverheiraten und die ihren Söhnen ein Frauen- und Menschenbild vermitteln, das sie, manchmal gleichgültig gegenüber Recht und Gesetz, zu gewalttätigen Ehemännern, manchmal gar zu Mördern werden lässt".
Wer Ates Werk liest, bekommt einen klaren Eindruck, wie groß der Auftrag ist, dem die deutsche Gesellschaft sich stellen sollte. Die streitbare Expertin fordert nicht weniger als eine "transkulturelle Gesellschaft", in der die Grenzen verwischen und ein Gleichgewicht der Kulturen erreicht wird. Auf muslimischer Seite hält sie auf dem Weg dorthin einige Dinge für unumgänglich: eine Reform des Islams hin zu einer zeitgemäßen Scharia-Auslegung sowie ein Ende der Definitionshoheit der Fundamentalisten. Dauerhaft, argumentiert Ates, werde es ohne einen "islamischen Luther" nicht gehen.
Das erinnert an das Konzept des "Euro-Islams" des Islamwissenschaftlers Bassam Tibi. Der Weg dorthin, wenn er überhaupt je begangen werden sollte, wird lang und beschwerlich sein. Mehr Hoffnung machen die letzten Sätze, die Seyran Ates gewählt hat. Kurz und klar beschreiben sie, was Integration eigentlich ausmacht: "Wir sollten mehr Energie investieren, uns mit den Augen der anderen zu sehen. Weltoffene Menschen machen das mit Freude. Sie schauen sich Sitten und Gebräuche anderer Kulturen an, um sie dann mit den eigenen Traditionen und Werten vergleichen und sich die Frage zu stellen, warum sie selbst etwas so und die anderen etwas anders machen. Dazu gehört natürlich die Fähigkeit zur Selbstkritik. Lernen wir voneinander. Wir können nicht darauf warten, dass die große Politik all unsere Probleme löst. Integration, das Zusammenleben der Kulturen, findet im Wohnzimmer, auf der Straße, auf dem Spielplatz, beim Arztbesuch, eben im Alltag statt."
Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können.
Ullstein Verlag, Berlin 2007; 282 S., 18,90 ¤