EU-RATSPRÄSIDENTSCHAFT
Portugal kann eine positive Bilanz ziehen. Doch auf die EU warten viele ungelöste Fragen.
Ein gewaltiges Denkmal an der Tejo-Promenade im Lissaboner Vorort Belém kündet bis heute von Portugals kolonialer Vergangenheit. Von dieser Stelle brachen vor mehr als 400 Jahren berühmte Entdecker wie Vasco da Gama zu neuen Ufern auf. Heute spielt das kleine EU-Land am äußersten Westzipfel Europas auf der Weltbühne keine Rolle mehr - wenn es nicht gerade für sechs Monate die europäische Ratspräsidentschaft innehat und in Belém der neue EU-Vertrag unterzeichnet wird.
Ende Dezember endet das portugiesische Halbjahr. Seine Bilanz kann sich sehen lassen. Mitte Oktober verständigten sich die 27 Regierungen nach langem Tauziehen einstimmig auf einen neuen EU-Vertrag. Anfang Dezember fand zum ersten Mal nach sieben Jahren Pause ein europäisch-afrikanischer Gipfel statt. Der stand lange auf der Kippe, kam aber dank beharrlicher diplomatischer Bemühungen der Gastgeber dann doch zustande.
Schließlich sorgten die Portugiesen dafür, dass noch vor Weihnachten die Schlagbäume Richtung Osten abgebaut werden. Vom 21. Dezember an kann ein Reisender von Portugal bis Polen fahren, ohne ein einziges Mal nach seinem Pass gefragt zu werden. Diese Erweiterung des so genannten Schengen-Raumes sollte eigentlich verschoben werden, weil das zugehörige Datenaustausch-System (SIS II) noch nicht fertiggestellt war. Die neuen Mitgliedstaaten fühlten sich ausgeschlossen. Portugal legte die Krise mit dem Vorschlag bei, die derzeit bestehende Datenbank SIS I für eine Übergangsphase auf die neuen Schengenstaaten auszudehnen. In einem zweiten Schritt soll dann für alle SIS II eingeführt werden.
Damit die portugiesischen Mühen nicht so rasch in Vergessenheit geraten, nötigte Portugals Premier José Socrates seine Amtskollegen dazu, innerhalb von vier Tagen gleich zwei Mal in die schöne Stadt am Tejo einzufliegen. Im Hieronymus-Kloster, wo 1985 Portugal den Beitrittsvertrag zur Europäischen Union unterschrieb, wurde am 13. Dezember der neue EU-Vertrag feierlich unterzeichnet. Einem EU-Ritual folgend, wonach die Tagungsstadt den dort gefassten Beschlüssen ihren Namen gibt, wird er also "Vertrag von Lissabon" heißen. Dabei mag auch die Hoffnung mitschwingen, dass der sperrige und glücklose "Lissabon-Prozess" aus dem Jahr 2000, der die europäische Wettbewerbsfähigkeit hätte stärken sollen und der nie richtig in Fahrt kam, darüber in Vergessenheit gerät. Schon 24 Stunden später trafen sich die Vertragsunterzeichner in Brüssel wieder, wo das Alltagsgeschäft eines EU-Gipfels auf sie wartete.
Mit dem Vorschlag, Reisezeit und CO2 einzusparen und den Dezembergipfel ausnahmsweise ebenfalls nach Lissabon zu verlegen, konnte sich Socrates nicht durchsetzen. Belgien beharrte auf seinem vertraglich verbrieften Recht, Gastgeber von jährlich zwei Gipfeln zu sein. Schließlich wird in Europas Hauptstadt gerade ein teures neues Gipfelgebäude gebaut und die Sorge, das Geschehen könnte sich nach einem Lissaboner Präzedenzfall wieder mehr in die nationalen Hauptstädte zurückverlagern, ist nicht unberechtigt.
Den nationalen Lackmustest hat der Lissaboner Vertrag ohnehin noch vor sich. In jedem der 27 Mitgliedsländer muss er erneut durch die Ratifizierungsprozedur. Irland muss aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Volksabstimmung durchführen. Und in Großbritannien wächst der Druck auf den neuen Premierminister Gordon Brown, ebenfalls das Volk zu den Urnen zu rufen. Wie schwach der britische Premier derzeit dasteht, zeigt sich schon daran, dass er Terminprobleme vorschob, um der Zeremonie im Hieronymus-Kloster fernbleiben zu können. Manche Politiker lassen sich nicht filmen, während sie eine Rolltreppe abwärts fahren, um nicht als Verlierer dazustehen. Gordon Brown fürchtet um sein Image, wenn er seine Unterschrift unter einen europäischen Vertrag setzt - das sagt viel über den Stellenwert Europas bei den britischen Wählern aus. Bei der feierlichen Proklamation der Grundrechte-Charta am 12. Dezember im Europaparlament waren es britische und polnische Nationalkonservative, die durch Buhrufe und Pfiffe die Rede des EU-Parlamentspräsidenten zu übertönen versuchten.
Dem EU-Afrika-Gipfel blieb Gordon Brown ebenfalls fern. Er hatte lange vorher angekündigt, dass er sich nicht mit Simbabwes Diktator Robert Mugabe an einen Tisch setzen werde. Immerhin hielt er ein Versprechen, das sein Vorgänger Tony Blair schon im Jahr 2006 der deutschen Bundeskanzlerin gegeben hatte, und blockierte das Sondervisum für Mugabe nicht mit seinem Veto. Angela Merkel hatte Blair davon überzeugen können, dass ein europäisch-afrikanisches Treffen mehr als überfällig sei und nicht am Zwist zwischen Großbritannien und seiner ehemaligen Kolonie scheitern dürfe. In Vertretung der abwesenden Briten übernahm es Merkel auch, Mugabe beim EU-Afrika-Gipfel die Leviten zu lesen. Die afrikanischen Gäste reagierten verschnupft auf diese Einmischung in ihre Angelegenheiten. Diplomaten versicherten aber, hinter den Kulissen habe Merkel für ihre kritischen Worte zur Menschenrechtslage in Simbabwe viel Anerkennung geerntet. Heftigen Streit gab es bei dem Treffen von 80 europäischen und afrikanischen Regierungen über die geplanten neuen Handelsabkommen zwischen der EU und den afrikanischen Ländern. Die Afrikaner fürchten drastische Zolleinbußen bei Einfuhren aus Europa und Nachteile für ihre landwirtschaftlichen Produkte auf dem europäischen Markt. Die Europäer versprachen zwar, ihre Position noch einmal zu überdenken. Doch müssten auch die afrikanischen Partner zu Kompromissen bereit sein.
Ohne die Vorarbeit des größten und wirtschaftlich einflussreichen EU-Mitglieds Deutschland wäre die portugiesische Bilanz sehr viel magerer ausgefallen. Angela Merkel hatte beim Juni-Gipfel hoch gepokert und am Ende ein präzises Verhandlungsmandat für den Reformvertrag erreicht, das kaum noch Schlupflöcher offen ließ. Im Rahmen der 18 Monate überspannenden Dreierpräsidentschaft von Deutschland, Portugal und Slowenien waren die Portugiesen schon im ersten Halbjahr 2007 in die Beratungen eingebunden und konnten dann unter eigener Regie an das deutsche Zwischenergebnis anknüpfen.
Auf das kleine Slowenien, das vom 1. Januar an als erstes osteuropäisches Land den Ratsvorsitz übernimmt, wartet nun ebenfalls viel Arbeit. Während Portugal aus geografischen und historischen Gründen sein Augenmerk auf den Mittelmeerraum, die Flüchtlingsproblematik und die Beziehungen zu Afrika richtete, sind im Osten viele Probleme liegengeblieben. Die EU konnte sich nicht auf eine gemeinsame Position in der Kosovofrage einigen. Das UN-Ultimatum lief daher aus, ohne dass eine befriedigende Lösung gefunden wurde. Andere Balkanländer wie Serbien und Montenegro erwarten von der EU eine Antwort auf die Frage, wie sie sich enger an die EU anschließen können. Auch die Ukraine möchte eine engere Nachbarschaftspolitik erreichen. Die Verhandlungen mit der Türkei kochen auf kleiner Flamme, seit Beitrittsgegner Nicolas Sarkozy in Frankreich die Präsidentschaft übernommen hat. Von Mitte 2008 an darf er selber zeigen, was er als Ratspräsident zustande bringt. Dann führt er für sechs Monate die EU.