Kulturszene
Der brutale Krieg der Drogenkartelle prägt auch die mexikanische Kunst
Es sind seltsame Helden, die im Norden Mexikos mit Balladen besungen werden. Der berühmteste ist vielleicht Jesús Malverde. Gestorben ist er am 3. Mai 1909, das steht auf seinem Gedenkstein am Rande der Stadt Culiacán. Aber niemand weiß, ob er erschossen wurde oder doch gehängt. Malverde war als Räuber und Schmuggler berüchtigt, und trotzdem kommen die Menschen an seinem Todestag mit Blumen in die Kapelle. "Er war ein Bandit, aber niemals ein Mörder, und wenn er stahl, dann aus Not", heißt es in einer der mexikanischen Balladen, die Corridos genannt werden. Die Pilger hoffen auf ein Wunder. Oder auf Beistand bei der nächsten Übeltat. Denn Jesús Malverde ist der "Schutzheilige" der Drogenhändler.
Seit einem Jahrhundert leben viele Mexikaner an der Grenze zu den USA vom Schmuggel. Opium, Kokain und Marihuana haben sie ins Nachbarland geschleust. Heute ist Mexiko ein Land im Drogenkrieg. Mehr als 2.500 Menschen haben die Kartelle im vergangenen Jahr hingerichtet, enthauptet, oder erschossen, im Kampf untereinander und mit der Armee. Diese grausame Inspiration prägt auch Musik, moderne Kunst und Literatur in Mexiko. "Ich kann die Kunst nicht von dem lösen, was ich fühle, was ich sehe", sagt Élmer Mendoza, der in Culiacán geboren wurde. Mit seinen Romanen gilt er als wichtigster Chronist der Drogenkultur, der Narcocultura. Sogar die mexikanische Architektur hat eine Spielart des Drogenschicks: Häuser mit überbordenden Verzierungen, Monumente des schlechten Geschmacks.
Besonders begeistern die Mexikaner aber Narcocorridos - Balladen, in denen Drogenhändler als romantische Herausforderer der Staatsmacht besungen werden. Wenn Los Tigres del Norte mit Akkordeon und Gitarre zum Tanz aufspielen, feiern bei Konzerten Zehntausende Zuschauer mit, mehr als 32 Millionen Alben hat die Gruppe aus Sinaloa verkauft. Und wenn Los Tucanes de Tijuana, die auf Bandfotos gerne mit Gewehren posieren, singen "Ich weiß, dass sie mich eines Tages töten, aber arm will ich nicht sterben", dann wird der härteste Drogenbaron weich.
Die Wurzeln der Corridos liegen im nördlichen Grenzland. "Die Lieder waren Lobpreisungen für vermeintliche Heldentaten der Capos, die in den Städten eher für Ordnung sorgten als bestechliche Polizisten", erklärt José Manuel Valenzuela, der in der Grenzstadt Tijuana über Narcocorridos forscht. Mit Polkas und Walzern brachten europäische Einwanderer die Musik, dazu sangen die Mexikaner Abenteuergeschichten mit einem Schuss Liebe.
Heute sind Narcocorridos in immer mehr Staaten Mexikos verboten oder bei den Radiosendern verpönt; die Drogenkartelle nutzen für ihre brutalen Botschaften immer häufiger das Internet. Auf Youtube und anderen Videoportalen zeigen sie Entführungsvideos oder Hinrichtungen von Politikern oder Gegnern. "Heute trägt vor allem dieser Kanal zur Selbstdefinition der Drogenhändler bei. Sie wollen zeigen, dass sie noch viel böser sind als die anderen Bösen", sagt Luis Astorga, Soziologe an der Nationalen Universität UNAM in Mexiko-Stadt. An die Abscheulichkeiten des allgegenwärtigen Drogenkriegs erinnert auch die Ausstellung von Rosa Maria Robles. Im Kunstmuseum Culiacán hat sie blutverschmierte Decken und Kleidungsstücke in einer Reihe ausgebreitet. "Alfombra roja", der rote Teppich, führt durch das Treppenhaus bis hinauf in die Galerie des Kolonialbaus.
"Es war eine Decke mit getrocknetem Blut, die ich im Müll gefunden habe", erzählt die 46-Jährige von dem Anfang des Kunstwerks. "Und weil wir jeden Tag in Sinaloa mit der Nachricht von einer weiteren Hinrichtung geweckt werden, glaube ich, dass es echtes Blut war." Allerdings kam nach der Ausstellungseröffnung bald die Staatsanwaltschaft und beschlagnahmte die Ausstellungsstücke. Also vergoss Robles ihr eigenes Blut und färbte damit neue Decken. "Wir sind an einem Punkt des Verfalls angekommen, an dem wir uns an die alltägliche Gewalt gewöhnt haben", sagt die Künstlerin zu der Abstumpfung. Deshalb warnt sie in ihrer Schau mit Flaggen aus Dollarscheinen, einem Fallbeil über einer Wiege, einem Tischtuch bedruckt mit Zeitungsmeldungen über blutige Taten in Culiacán im Kampf der Drogenhändler.
Tatsächlich ist in den Zeitungen häufig nicht mehr Raum als eine Meldung über die Toten in den Auseinandersetzungen zwischen Desperados, Polizei und Militär. Vor einem Jahr hat Präsident Felipe Calderón die Armee in Marsch gesetzt. 30.000 Soldaten versuchen seitdem, den Krieg der vier mächtigsten Drogenkartelle zu bremsen. Als Brennpunkte galten bisher die Grenzgebiete und der Regenwald, aber immer häufiger entflammen die Feuergefechte in der Hauptstadt oder an der Pazifikküste. Den Badeort Acapulco, dessen frühere Eleganz sichtbar abblättert, hat auch Alejandro Román, 32, für sein viertes Theaterstück erkundet. In der Hauptstadt, im Theater La Capilla, wird sein Theaterstück "Mastercard" aufgeführt. Junges Theater, mit Gewalt und ein wenig nackter Haut: Claudia, Miguel und Marco brauchen Geld. Fürs Überleben, für große Sonnenbrillen und Trainingsjacken von Puma. Deshalb wollen sie ein Drogending drehen in Acapulco, doch die Tat endet in einem Blutbad. "Wir haben eine Krise in der Kunst, wir Kreativen vergessen das Soziale, wir sehen nur die noch buntere Fernsehwelt", sagt Román. Auch die Drogenbarone hätten sich viel mehr für Corridos als für Theater interessiert.
Die Sehnsucht goldbehangener Verbrecher nach melodischer Anerkennung hat auch den US-Musikjournalisten Elijah Wald, Autor des Standardwerks "Narcocorrido", überrascht: "Ein Drogenhändler heuert nach einem erfolgreichen Geschäft als allererstes jemanden an, der einen Corrido darüber schreibt", sagt er. Die Musikkapellen nehmen angeblich mehrere Tausend Dollar für ein Stück voller Lobhudelei, weisen solche Auftragsarbeiten öffentlich aber vehement zurück. Dabei will sich mancher brutale Capo auch einmal ein bisschen wie Jesús Malverde fühlen.
Der Autor arbeitet als freier Journalist vor
allem für die "Süddeutsche Zeitung".