bürokratie
Übertriebene Auflagen sind mehr als ein leidiges Übel in Lateinamerika. Sie sorgen dafür, dass die Schattenwirtschaft floriert und die Armen arm bleiben.
Zu "Selvin"? Der einzige Taxifahrer, der so spät abends noch aufzutreiben ist, kennt das bekannteste Restaurant am Ort nicht. Genauso wenig kennt er die elementaren Regeln des Autofahrens, wie sich kurz nach Fahrtantritt herausstellt. Doch stolz zeigt José Fernandez (Name geändert) auf einen frisch an der Windschutzscheibe angebrachten Zettel. "Seit gestern habe ich die Taxilizenz", grinst er. Er sei legal und keiner von den "Piraten", betont Fernandez unter Anspielung auf die vielen illegalen Taxis in Costa Rica.
Die Fahrt zum Restaurant Selvin zieht sich hin, dank der profunden Unkenntnis des legalen Taxifahrers Fernandez. So bleibt Zeit, die verschlungenen Wege zu einer Taxilizenz zu erörtern. "Den offiziellen Weg nimmt hier niemand", erklärt der Taxifahrer freimütig. Denn der benötige mindestens ein Jahr an Amtsgängen in der weit entfernten Hauptstadt San José. Ihm habe darum "ein Freund beim Ministerium" geholfen. Der verschaffte in kürzester Zeit das begehrte Papier, und das auch ohne lästige Prüfungen für den angehenden Taxifahrer. Als Gegenleistung bekam der Freund "chorizo" (Salami), so die landesübliche Umschreibung für Bestechung. Rund 800 US-Dollar hatte Fernandez hingeblättert. Das entspricht zwei Monatseinkommen eines Taxifahrers.
Die Geschichte des Taxifahrers Fernandez erstaunt in Costa Rica niemanden, und würde auch im Rest Lateinamerikas mit Achselzucken quittiert. Denn wenn es etwas gibt, was die 34 Nationen und mehr als 500 Millionen Einwohner zwischen dem Rio Grande und Feuerland eint, dann ist es eine kafkaeske Bürokratie. Sie reglementiert sämtliche Lebensbereiche der Latinos und Latinas mit immer absurderen Vorschriften. Einige Beispiele:
- Wenn ein Hausbesitzer in Mexiko sein Heim juristisch korrekt verkaufen will, muss er dafür 55 verschiedene Behördengänge absolvieren, die mindestens 226 Tage benötigen. Die dabei anfallenden Gebühren betragen etwas mehr als 6.000 US-Dollar, was dem Preis eines Hauses in den ärmeren Zonen entspricht.
- Wenn ein Kleinbäcker in Guatemala Stadt sein Geschäft gemäß allen lokalen und nationalen Vorschriften registrieren lassen will, muss er dafür einen Behördenmarathon über 120 Tage auf sich nehmen und dazu Gebühren über 2.639 US-Dollar entrichten. Das ist deutlich mehr als das übliche Jahreseinkommen eines Kleinunternehmers in dem Maya-Staat.
- Elf Jahre dauert in Argentinien das Verwaltungsverfahren, um Land zu kaufen, es ordnungsgemäß ins Register einzutragen und dazu noch eine Baugenehmigung zu erhalten. Dabei fallen 12.592 US-Dollar Gebühren an, mehr als das Dreifache der Prokopfwirtschaftsleistung des Landes.
- Will ein Kleinunternehmer in Brasilien ordnungsgemäß alle Steuern zahlen, muss er dafür 2.600 Arbeitsstunden jährlich in Behördengänge und Formulare investieren. Zusammengenommen machen all die verschiedenen Steuern etwa zwei Drittel des Jahresgewinns aus.
- In Paraguay ist der Weg zu einem Reisepass oder einem Fahrzeugschein so hürdenreich, dass dabei rund ein Drittel der Bürger Schmiergeld zahlt, um das Dokument zu erhalten, auf das eigentlich Rechtsanspruch besteht.
Dieser Hindernislauf hat System. Von übertriebenen Auflagen profitieren vor allem Zollbeamte, Verkehrspolizisten, Angestellte der Sozialversicherung und Politiker, die sich Gefälligkeiten entlohnen lassen. Selbst in dem als wenig korrupt geltenden Costa Rica leisten die Bürger laut einer Studie der nationalen Universität jährlich 18,8 Millionen US-Dollar Schmiergelder (rund 30 Dollar je Familie). Bruno Speck, Seniorberater für Lateinamerika bei der deutschen Antikorruptionsvereinigung "Transparency International", sieht eine generelle "Dynamik für mehr Bürokratie" in der Gesetzgebung Lateinamerikas. Diese fasst er mit einem brasilianischen Sprichwort zusammen: "Schwierigkeiten schaffen, um Erleichterungen zu verkaufen." Entsprechend zäh gestaltet sich der Kampf gegen übertriebene Bürokratie. Bereits in den 70er-Jahren schuf Brasilien ein Antibürokratie-Ministerium - und schaffte es bald wieder ab. Denn die neue Behörde hatte lediglich für noch mehr Bürokratie gesorgt. Eine ähnliche Erfahrung macht derzeit Mittelamerika, dessen fünf Kleinstaaten seit Jahrzehnten um eine Zollunion ringen. Der bisherige Fortschritt: Der Grenzübertritt innerhalb Mittelamerikas ist neuerdings noch langwieriger und kostspieliger, muss doch neben den jeweiligen nationalen Formularen auch noch das des so genannten gemeinsamen Zollsystems ausgefüllt werden. (Selbstverständlich lässt sich das bis zu vier Stunden dauernde Grenzprozedere beträchtlich abkürzen. Für zehn bis 20 US-Dollar bieten die meisten Grenzbeamten Express-Service.)
Die Bürokratie ist dabei mehr als ein leidiges Übel, das sich mit einer Gefälligkeitszahlung aus dem Weg räumen lässt. Vergleicht man die Länder Lateinamerikas, fällt eines auf: Besonders umständlich und teuer arbeitet die Staatsverwaltung ausgerechnet in den ärmsten Ländern des Kontinents, so etwa in Haiti, in Bolivien, in Paraguay, in Ecuador oder in Nicaragua. Dort ist es laut Studien der Weltbank besonders kompliziert, Handel zu betreiben, Eigentum zu registrieren, Schulden einzutreiben oder eine Baugenehmigung zu erhalten. Ist also am Ende die Bürokratie an der Armut schuld? Diese These verficht seit 20 Jahren der peruanische Ökonom Hernando de Soto. Er sagt: "Auch arme Leute wollen im Rechtssystem mit eingeschlossen sein. Sie können es aber nicht, denn sie finden eine große Mauer aus Papier vor, die sie davon abhält." Die Folge: "Die Mehrheit der Leute lebt und arbeitet außerhalb des Rechtssystems."
Tatsächlich findet ein großer Teil des Lebens in Lateinamerika außerhalb der Regeln statt, die die Bürokraten in den Hauptstädten bereithalten. Dazu zählen illegale Taxifahrer in Costa Rica, illegale Straßenhändler in Nicaragua, illegale Geldverleiher in Mexiko oder illegale Fleischereien in Argentinien. In Peru etwa sind von den schätzungsweise 2,5 Millionen Kleinunternehmen 650.000 legal registriert. Und in Mexiko, der größten Wirtschaftsnation Lateinamerikas, übersteigt die Zahl der im informellen Sektor arbeitenden Menschen längst die Zahl der sozialversicherungspflichtig Angestellten.
Die Folgen für die Menschen sind fatal. Kleinbauern können nicht darauf vertrauen, dass ihr Land wirklich ihnen gehört. Informelle Arbeiter können keine Schutzrechte und keine Rente geltend machen, ganz gleich wie großzügig die Sozialgesetzgebung des Landes sein mag. Und die Millionen von informellen Kleinunternehmern bekommen weder Bankkredite noch können sie Export betreiben. Damit haben sie auch nichts von all den internationalen Freihandelsabkommen.
Für Mexiko hat der Ökonom de Soto errechnet, dass 94 Prozent aller Unternehmen informell arbeiten, also ohne legale Anerkennung, ohne Eintragung ins Handelsregister und ohne die erforderlichen Genehmigungen. Sie beschäftigen 47 Prozent der arbeitsfähigen Menschen und ernähren 53 Prozent der über 100 Millionen Einwohner des Aztekenlandes. Das Kapital, das die arme Bevölkerungsmehrheit über Jahre erarbeitet, erspart und investiert hat, schätzt de Soto auf 310 Milliarden US-Dollar. Das ist mehr als das Tausendfache der jährlichen Entwicklungshilfe für Mexiko. Doch legal und effizient eingesetzt werden kann das Kapital nicht - wegen bürokratischer Hürden.
De Soto will Lateinamerikas Bürokratie radikal vereinfachen, im Namen der Armen. Auf dem internationalen Parkett gilt der in der Schweiz aufgewachsene Peruaner damit als origineller Denker. Doch im autoritätsgläubigen Heimatkontinent ist er als ultraliberaler Privatisierer verschrien. Bis 1992 war de Soto Chefberater des damaligen Präsidenten Alberto Fujimori in Peru und setzte viele administrative Vereinfachungen durch. Doch die erwarteten Erfolge im Kampf gegen die Armut stellten sich nicht ein.
Für einen weniger radikalen Ansatz wirbt darum der Politiologe Speck von Transparency International (TI). Er mahnt: "Bürokratie hat ja auch einen Sinn, etwa beim Umweltschutz oder beim Arbeitnehmerschutz." Es wäre darum beschränkt zu sagen, jegliche Bürokratie sei einfach nur ein Hindernis. In der Praxis allerdings würden auch sinnvolle Vorschriften immer wieder mit übertriebenen Auflagen verbunden, und kaum ein Politiker sei an Vereinfachungen interessiert. Ganz im Gegenteil laute das Motto darum nach wie vor: "Schwierigkeiten schaffen, um Erleichterungen zu verkaufen."
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Costa Rica und Mexiko.