KOOPERATION MIT DER EU
Die Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Lateinamerika spricht mit mehr als einer Stimme.
Auf dem ersten Gipfeltreffen zwischen den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union und Lateinamerikas in Rio de Janeiro wurde 1999 eine "strategische Partnerschaft" angekündigt - Lateinamerika und die Europäische Union, zwei Regionen mit den meisten Integrationserfahrungen, mit gemeinsamen Wertvorstellungen von Menschenrechten, Demokratie und Marktwirtschaft und einer "gemeinsamen Weltsicht". Neun Jahre später und mit Blick auf den fünften Gipfel in Lima im Mai 2008 hat sich herausgestellt, dass die wechselseitigen Erwartungen wohl doch zu hoch waren und die oft beschworenen gemeinsamen Interessen nicht zu gemeinsamen Politiken geführt haben. Dabei hat es keineswegs an guten Absichten gefehlt. Die vor allem von Brüssel mit kräftiger Unterstützung Spaniens etablierte Beziehungsarchitektur zwischen beiden Regionen demonstriert einen Grad der Vernetzung wie sie nicht einmal wirtschaftlich für die EU wesentlich wichtigere Regionen aufweisen können.
Über die Jahre sind eingespielte Mechanismen zur Befriedigung jeder einzelnen Subregion und sogar einzelner Staaten und natürlich spezifischer Interessengruppen in Lateinamerika entwickelt worden, die dazu beitragen sollten, aus Lateinamerika nicht nur einen wichtigen Wirtschaftspartner, sondern vor allem auch einen demokratisch zuverlässigen Allianzpartner in einer multilateralen Weltordnung zu machen.
Die biregionalen Beziehungen umfassen fünf verschiedene Ebenen: Interregional waren die Parlamentarier die Vorreiter, denn seit 1974 gibt es regelmäßige Treffen zwischen dem Europäischen Parlament und dem - allerdings nicht direkt gewählten - Lateinamerikanischen Parlament (Parlatino), mit Sitz in Sao Paulo. Seit 2007 besteht eine gemischte europäisch-lateinamerikanische Parlamentarische Versammlung mit Sitz in Brüssel. Auf der EU- Außenministerebene gibt es seit 1990 halbjährliche Treffen mit den lateinamerikanischen Kollegen der Rio-Gruppe, und seit 1999 besteht der zweijährige Rhythmus der Gipfeltreffen. Sie dienen freilich nicht den Verhandlungen über die wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit, sondern den Konsultationen über globale Probleme.
Die eigentlichen Verhandlungen aber finden auf der subregionalen oder bilateralen Ebene statt: mit Zentralamerika seit 1984, mit dem Mercosur seit 1995 und mit der Andengemeinschaft seit 1996. Mit allen drei Subregionen ist freilich noch kein Assoziierungsabkommen erreicht worden. Derzeit machen sich jedoch sowohl die Zentralamerikaner als auch die durch den Austritt Venezuelas reduzierte Andengemeinschaft Hoffnungen auf einen baldigen Abschluss. Der EU-Wunschpartner Mercosur hingegen ist bisher nicht einmal in die Nähe eines Verhandlungsabschlusses gekommen, weil aus Sicht der Brasilianer und Argentinier die Verhandlungsbereitschaft der EU - vor allem hinsichtlich der handelspolitischen Rückwirkungen der gemeinsamen Agrarpolitik - zu wünschen übrig lässt.
Erfolgreicher waren auf bilateraler Ebene Mexiko und Chile, die schon 1995 weitreichende Assoziierungsabkommen mit der EU erreicht haben. Bei Mexiko hatte das Interesse der EU den Ausschlag gegeben, das Land nicht allein dem US-Einfluss - durch seine Mitgliedschaft in dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) - zu überlassen, und Chile hatte es als assoziiertes Mercosurmitglied rechtzeitig verstanden, sich von den schwierigen subregionalen Verhandlungen mit der EU abzukoppeln und sich aufgrund seiner guten Beziehungen zu einer Reihe von EU-Staaten ein Assoziierungsabkommen zu sichern.
EU-Kritiker in Lateinamerika weisen deshalb gern darauf hin, dass die EU zwar immer die Priorität der biregionalen Beziehungen betont, aber enge vertraglichen Beziehungen bisher nur bilateral pflegt. Dieses Argument ist durch das jüngste "strategische Abkommen" der EU mit Brasilien vom Juli 2007, das keinen Assoziationscharakter hat, noch verstärkt geworden.
Der Bilateralismus in den EU-Beziehungen zu Lateinamerika spiegelt die traditionellen Beziehungen wichtiger EU-Länder mit der Region. Die enge Zusammenarbeit Deutschlands mit Brasilien, Italiens mit Argentinien, Frankreichs mit Mexiko, Großbritanniens mit Chile und Spaniens mit einer ganzen Reihe lateinamerikanischer Staaten ist ja nicht etwa in den biregionalen Beziehungen der EU aufgegangen, sondern hat immer daneben und zum Teil sogar in Konkurrenz zu diesen Beziehungen bestanden. Dies hat die Lateinamerikaner in ihrer Bevorzugung bilateraler Beziehungen noch bestärkt und dadurch auch zum Mangel an Glaubwürdigkeit der EU-Positionen auf Seiten Lateinamerikas beigetragen.
Die fünfte Ebene der biregionalen Beziehungen ist transnational und wird von den zunehmenden Aktivitäten der Zivilgesellschaft bestimmt. Kirchen, Parteien und Gewerkschaften, aber auch Unternehmer - wie etwa in Europa das Mercosur-Business- Forum (EMBF) - haben enge Kooperationsnetze aufgebaut, die zum Teil auch aus EU-Mitteln gefördert werden. Bei allen Konsultationen legt die EU als größter Entwicklungshilfegeber in Lateinamerika zunehmend Wert darauf, die Zivilgesellschaft - zum Teil als Legitimation für die "neuen Themen" in den Verhandlungen wie Umwelt- und Sozialstandards, soziale Kohäsion und gemeinsamer Kampf gegen die Drogen - einzubinden.
Warum also die beidseitige Enttäuschung über die mangelnden Ergebnisse der strategischen Partnerschaft? Sie beruht vor allem auf einer Reihe von Missverständnissen über die Rolle und die Möglichkeiten der jeweiligen Partnerregion. Auf Seiten der EU ist Lateinamerika allzu lange als regionaler Block mit gemeinsamen Interessen gesehen worden, der sich Dank zunehmender Integration, zu einem wichtigen globalen Akteur und Allianzpartner entwickeln würde. Die zunehmende Diversität innerhalb der Region, die Interessengegensätze zwischen nationalen Entwicklungsmodellen und die Reaktionen auf die Globalisierung wurden in Brüssel nur ungenügend in Betracht gezogen. Spätestens seit dem Gipfeltreffen in Wien 2006 wurde deutlich, dass Lateinamerika nicht mit einer Stimme spricht, dass seine Interessen nur schwer zu bündeln oder seine Staaten gar zu "integrieren" sind und dass seine hochgeschätzte Rolle als Rohstofflieferant, Energieversorger und Exportmarkt von den USA und Asien stärker wahrgenommen wird als von Europa.
Auf Seiten der Lateinamerikaner hatte sich demgegenüber der Mythos verfestigt, dass ein wirtschaftlich starkes Europa ein Gegengewicht zu dem oft als übermächtig empfundenen Einfluss der USA sein könnte und der Region nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Optionen eröffnen und vor allem seine internationale Verhandlungsmacht stärken würde. Das historische und trotz aller Belastungen andauernde Gewicht der "transatlantischen Beziehungen" als außenpolitischer Orientierungsrahmen der EU ist ebenso unterschätzt worden wie die integrationspolitische Bedeutung der gemeinsamen Agrarpolitik, deren Reduzierung bei allen handelspolitischen Verhandlungen für die Lateinamerikaner im Vordergrund stand. Die Hoffnung auf deutliche Zugeständnisse der EU bei den Einfuhren agrarischer Produkte war vor allem bei den Mercosurverhandlungen das Leitmotiv, und das Ausbleiben eines solchen Entgegenkommens wurde in der Region als Desinteresse der EU an einer engeren Beziehung gewertet.
Neben diesen Fehleinschätzungen sind es vor allem auch die konkurrierenden Beziehungen beider Regionen gegenüber Dritten - also sowohl gegenüber den USA als auch gegenüber Asien, die den Wert einer "strategischen Partnerschaft" sehr reduziert, wenn nicht gar hinfällig gemacht haben.
Die Schwierigkeit Lateinamerikas, einen Minimalkonsens innerhalb der Region hinsichtlich seiner internationalen Position zu finden, macht deshalb eine biregionale Interessenharmonisierung - wie sie von der EU immer wieder versucht worden ist - außerordentlich kompliziert. Hinzu kommt, dass der Stellenwert der jeweiligen Region für die andere von zentraler Bedeutung für die Stabilität biregionaler Beziehungen ist. Aber beide haben weitaus wichtigere Beziehungen zu den USA als zueinander. Außerdem ist insbesondere beim Handel die zunehmende Asymmetrie deutlich erkennbar: Während die EU für Lateinamerika noch nahezu 20 Prozent des Handelsvolumens ausmacht, liegt Lateinamerikas Anteil am EU-Außenhandel bei weniger als vier Prozent, ist also geringer als der der Schweiz.
Von der ursprünglichen Absicht beider Regionen, durch eine institutionalisierte "strategische Partnerschaft" eine "Zugewinngemeinschaft" auch unter den verschärften Bedingungen der Globalisierung erreichen zu können, ist daher heute nicht mehr viel zu spüren. Was trotz der beiderseitigen Enttäuschung bleibt, ist der politische Wille zu einer stärkeren Kooperation, der eher Erfolg zu versprechen scheint als eine anspruchsvolle, aber nicht realisierbare biregionale Politik.
Der Autor war bis zum Herbst 2007 Direktor des Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Chile und zuvor in Kolumbien.