Kulturgeschichte
Über den Einfluss des magisch-mythischen Denkens auf Lateinamerika heute. Ein Essay.
Lateinamerika ist heute zu einer politischen Werkstatt in der Weltzivilisation geworden, die neue Antworten auf die Globalisierung sucht. Andere Antworten als das kommunistisch-kapitalistische Regime in China oder etwa Indien, das sich einem westlich geprägten Fortschrittsbegriff verschrieben hat, der die eigene kulturelle Identität bedroht. So ragen die neuen politischen Bewegungen Lateinamerikas wie ein Anachronismus, wie ein Mahnmal aus der kapitalistischen Weltgesellschaft heraus und stellen ernsthaft die Frage, ob es nicht doch Alternativen zum Neoliberalismus geben könne.
Wie lassen sich die neuen "linken" Bewegungen aus der lateinamerikanischen Kulturgeschichte begreifen? Ein Teil der Linken ist pragmatisch, realistisch und modern, wie Lula in Brasilien oder Michelle Bachelet in Chile, Tabare Vazquez in Uruguay und Alan Garcia in Peru. Eine andere Linke neigt zur Demagogie, wie etwa in Venezuela, Mexiko, Bolivien, Ecuador oder Kuba. Die demokratisch-pragmatische "Linke" respektiert den freien Markt, die populistische ist wesentlich "antiliberal".
Man wird diese aktuellen politischen Umbruchbewegungen nicht ohne die Kultur- und Religionsgeschichte verstehen können, ohne die anthropologische Einsicht in die Logiken des Denkens und Handelns der lateinamerikanischen Kultur. So ist Lateinamerika bis heute, in den Worten des mexikanischen Schriftstellers Octavio Paz, von einem "gebrochenen Verhältnis von Tradition und Moderne" gekennzeichnet. Die ganze historische Kultur scheint sich auf eigentümliche Weise der Moderne zu widersetzen. Die Versöhnung zwischen den indigenen, zum Teil noch autochthonen Kulturen und der Industriekultur blieb ein unerfüllter Traum. Es gibt, so der Historiker Fernand Braudel, eine Flucht Lateinamerikas vor einem "materiellen" Dasein; für den kubanischen Schriftsteller Alejo Carpantier "leidet" der ganze Kontinent an der Modernität und erlebt bloß eine "geborgte Modernität" mit potemkinschen Fassaden.
Warum Technologie und Kultur, Ökonomie und Tradition in Lateinamerika so schwer zu versöhnen sind, hat einen einsichtigen Grund: Die historischen Voraussetzungen sind dort nicht im gleichen Maße gegeben wie in der calvinistischen Kultur Nordamerikas mit ihrem "Matter-of-fact"-Protestantismus, der Idee einer "Stadt auf dem Berge" oder der Gnadenwahl des puritanischen Erbes. Wir erleben in Lateinamerika also eine künstlich auferlegte Modernität, die kein "manifest destiny" kennt wie Nordamerika bereits im 19. Jahrhundert. Technologischer Fortschritt kann aber nicht ohne kulturhistorische Voraussetzungen einfach von außen auferlegt werden, sonst geht die humane Identität verloren. Die aztekische, die olmekische, die Inkakultur - sie alle widersprechen in ihrer transzendentalen Kosmologie der modernen westlichen Technologie und sind nur sehr schwer zu "akkulturieren". Mit einem Wort: Das säkulare Geschichtsverständnis, das sich in Europa seit der Renaissance herausbildete, diese neue "Kosmologie" mit einem physikalisch-naturwissenschaftlichen Weltbild in ihrem Zentrum, fand in der traditionellen Kultur Lateinamerikas wie im präkolumbianischen Erbe keine Entsprechung.
Tatsächlich ist jede Rationalität kulturgebunden und muss unterschieden werden von der reinen Logik. Aus andinischer Sicht ruft die westliche Monopolisierung des Rationalitätsbegriffes Protest hervor und erscheint den Menschen als Bedrohung der kulturellen Identität Lateinamerikas. Das ist auch der Grund, warum die magisch-mythischen und spekulativen Traditionen der lateinamerikanischen Kultur immer wieder in Konflikt gerieten mit dem empi- risch-analytischen Denken von westlicher Wissenschaft und Technologie.
Ein Rückblick auf die frühen Universitätsgründungen belegt dies. 1535 bei der Gründung der Universität von Lima oder 1551 beim Colegio del Rosario in Kolumbien dominierten von Beginn an Philosophie und Theologie, vielleicht noch die Medizin, nicht aber wie in Harvard, Yale und Princeton die Naturwissenschaften, Mathematik und angewandte Technologie. Lateinamerika sollte nie eine vergleichbare empirisch-mathematische Technologie entwickeln wie Nordamerika. In Europa hingegen erstarkten in dieser Periode die experimentellen Wissenschaften. Im 17. Jahrhundert entwickelte sich die Theorie der induktiven Logik, ausgearbeitet von Francis Bacon, in die Praxis umgesetzt von John Stuart Mill. Seine utilitaristische Methode hatte in der Ideengeschichte Lateinamerikas nie eine Entsprechung, und auch der Naturbegriff der magisch-mythischen andinen Kultur war ein ganz anderer: Der indigene Mensch wollte die Natur nicht beherrschen, sondern ihr in Ehrfurcht dienen. Er verstand die Natur als Beschützer und Quelle des Lebens, ohne sie analytisch aushorchen zu wollen.
Auch die Kosmologie der Inkas fasst die Zeit nicht teleologisch auf, sie kennt keinen linearen aristotelischen Zeitbegriff wie die westliche Kultur, in der die Zeit das Agens der Veränderung - also auf Zukunft ausgerichtet - ist. In der indianischen Kosmologie verkörpert die Vergangenheit das Urbild, die heroische Vergangenheit - die Zukunft hingegen wird mit der Apokalypse und Weltzusammenbruch in Verbindung gebracht, sehr im Gegensatz zum glücklichen Zeitalter des Urbeginns, wo zwischen Himmel und Erde Gleichklang herrschte. Am Ende des Zyklus steht die Wiederherstellung der ursprünglichen Vergangenheit. Hier liegt ein elementarer Unterschied zur christlichen Theologie, wo die Vollkommenheit und Ewigkeit in der Zukunft liegen. Erst diese kulturgeschichtliche Dimension erklärt die Modernisierungskonflikte in Bolivien und in Ecuador, weisen doch beide Länder einen sehr hohen Anteil an indigener indianischer Bevölkerung auf.
In der Kolonialzeit war Lateinamerika zunächst eine geistige Konstruktion, eine Schöpfung Europas. Dass sich so viele utopische Fantasien an den Kontinent hefteten, entspringt vor allem der Beschreibung durch Amerigo Vespucci. Ohne sie wäre etwa der Staatsentwurf bei Thomas Morus gar nicht denkbar. Zudem war Thomas Morus von der Beschreibung des Inkastaates durch den Inka Gacilasco beeindruckt. Kaum zu glauben: Von Bartolome de las Cesas bis Vasco de Quiroga gab es Intellektuelle, die Karl V. vorschlugen, Lateinamerika von der europäischen Zivilisation abzutrennen, um dort Thomas Morus' Staatsentwurf "Utopia" zu verwirklichen.
Es waren nicht zuletzt die geschichtlichen Erfahrungen, die Lateinamerika an den Segnungen der westlichen Zivilisation zweifeln ließen. So standen die Versprechen, die die jungen Republiken im frühen 19. Jahrhundert ihren Bürgern gaben, oft nur auf dem Papier; die Verfassungen blieben überwiegend Rhetorik. Die politische Unabhängigkeit bedeutete für Lateinamerika weniger einen Sieg des liberalen Gedankengutes als die Erfahrung von politischer und sozialer Desintegration, verursacht durch die Auflösung der spanischen Universalmonarchie.
Breite Bevölkerungskreise blieben von den demokratischen Revolutionen ausgeschlossen; die wirtschaftliche Macht fiel in der Regel in die Hände der Oligarchen, die politische Macht in die Hände militärischer Eliten. Kennzeichnend war auch ein seltsam übersteigerter autozentrischer Individualismus, ein "Personalismo" und "Caudillismo", den wir heute noch in Figuren wie Hugo Chávez, Rafael Correa, Daniel Ortega oder Evo Morales erkennen. Kurzum, den demokratischen Revolutionen zum Trotz war Lateinamerika lange Zeit von einem Neofeudalismus und Merkantilismus geprägt, der sich bloß als bürgerlich-westlicher Liberalismus tarnte.
Dennoch brachen immer wieder Gegenbewegungen auf. So lässt sich die Geschichte Lateinamerikas auch als Metamorphose des utopischen Denkens deuten, getragen von einem gleichsam "messianischen Überschuss", von einem kreolischen, indigenen und panamerikanischen Traum. 1516, im selben Jahr, als Thomas Morus' "Utopia" erschien, verklärte der Theologe Bartolome de las Casas die Ureinwohner zum "genus angelicum", als Menschen "in Unschuld und ohne Habgier" - im Gegensatz zum Europa der Renaissance. Im frühen 20. Jahrhundert entwickelten Denker wie Jose Mariategui (1894-1930), Haye de la Torre oder der peruanische Schriftsteller Jose Maria Arguedas (1911-1969) eine indigene andinische Utopie und verknüpften sie mit marxistischem Gedankengut. Quechua sprechende Indios sollten mit einem sozialrevolutionären andinischen Messianismus die ganze Welt prägen. Nicht Lenin sollte das Vorbild sein, sondern Tupac Amaru II., dessen Reinkarnation in den wechselnden Bauernführern erlebt wurde. Auch der Unabhängigkeitskämpfer Simon Bolivar (1783-1830) träumte vom harmonischen Zusammenleben von Indios, Schwarzen, Mestizen und Weißen unter kreolischer Obhut. Hier erschien erstmals die "messianische Prophetie", die Hugo Chávez, Lula da Silva oder Rafael Correa in Ecuador heute auf ihre Weise fortsetzten, unter anderem auch mit ihren Wirtschaftsreisen nach Afrika oder nach Asien.
Aber es gibt noch andere Quellen für den politischen Messianismus der linken Bewegungen. Der mexikanische Schriftsteller, Philosoph und Minister Jose Vasconcelos (1881-1959) beschwor in seiner viel gelesenen Schrift "La raza cosmica, Mission de la raza iberoamericana" 1925 eine Sonderstellung Lateinamerikas und predigte eine universale Befreiungsethik durch die Figur des "Ulysses criollo". Ein Friedenszeitalter sollte von Lateinamerika für die Menschheit ausgehen, die "Bekehrung aller Völker am Ende der Zeiten". Das gleiche messianische Bild entwarf Henrique Ureña aus Santo Domingo in seiner Schrift "La Utopia de America", ebenfalls im Jahre 1925. Auch ihm galt Nordamerika als das Land des schieren Materialismus, der Habgier und letztlich der Unfreiheit. Ureña trat für einen "neuen lateinamerikanischen" Menschen ein, einen Menschen, der wirklich "zum Menschen" wird und der Staatsutopie Nordamerikas abschwört. Diese Tradition führten in der Befreiungstheologie später Geistliche wie der Armenbischof Gustavo Gutierrez in Peru oder Leonardo Boff in Brasilien gegen den Widerstand des Vatikans weiter.
Lateinamerika wurde 1492 bei seiner Geburtsstunde - wie auch Teile Asiens oder Afrikas - zur ersten Peripherie des modernen Europas und zum Exerzierfeld für zivilisatorischen Hochmut. Damals war die Welt von Christoph Kolumbus noch das "Mare nostrum" der Römer, immer noch das Zentrum, umgeben von Asien, Afrika und Lateinamerika. Die "geistige" Eroberung Lateinamerikas vermochte aber nicht das Gleiche zu leisten wie das mediterrane Christentum der Antike, dem es über drei Jahrhunderte gelang, die eigene griechisch-römische Weltsicht zu verändern und zu erneuern, nicht zuletzt durch die Traditionen der armenischen, byzantinischen, koptischen, russischen und lateinischen Christenheit. Zu keiner Zeit gab es in Lateinamerika eine "argumentative Gemeinschaft", um die sich die Staatchefs heute in den politischen Bündnissen - vom "Mercosur" bis ALBA oder CAN - so sehr bemühen. Nicht zuletzt resultiert hieraus auch die Ablehnung der Freihandelszone mit den Vereinigten Staaten.
Was bedeuten diese immer noch lebendigen Traditionen für Lateinamerikas Zukunft? Der Kontinent könnte sich vom Eurozentrismus abwenden und einen eigenen Begriff der "Ratio" formulieren, der auch intuitive Intelligenz und Empathie zulässt und die Abstraktion des rationalen Universalismus überwindet. Die große Literatur Lateinamerikas hat hier bereits Wegmarken gesetzt, von Jorge Luis Borges bis Miguel Asturias, von Palbo Neruda bis Ernesto Sabato, Octavio Paz oder Carlos Fuentes, Juan Rulfo oder Carlos Drummond de Andrade, um nur einige Beispiele zu zitieren.
Aber auch sonst könnte Lateinamerika die Weltzivilisation des beginnenden 21. Jahrhunderts bereichern. Hier fällt wesentlich jene "Kreolisierung" ins Auge, die ja nicht nur für Lateinamerika bezeichnend ist, sondern für die Weltgesellschaft überhaupt. So wie die Kreolisierung das Merkmal der Entstehungsgeschichte Lateinamerikas ist, so schreitet sie derzeit im "Weltganzen" fort, zu spüren in den ethnisch-religiösen Konflikten in Indien, China, der islamischen Welt und in Afrika. Während der Westen sich bei seinem Blick auf den Globus noch von einem anachronistischen "kontinentalen Denken" leiten lässt, verwandelt sich die Weltgesellschaft immer stärker in Archipele, in ein Multiversum, in dem die Kulturen ihre Identität nicht mehr aus einer Wurzel beziehen, sondern aus einem "Wurzelgeflecht". Könnte es nicht sein, dass Lateinamerika mit seinen Erfahrungen, seinem imaginären Vermögen, mit seiner gelebten Metaphysik und Spiritualität die Welt in diesem Prozess der Kreolisierung bereichern und beleben kann?
Der Westen macht gerade die Erfahrung, wie der Universalitätsanspruch seiner Kultur infrage gestellt wird. Sein monolithisches Denken wird den Entwicklungen der Weltgesellschaft heute nicht mehr gerecht, auch wenn es mit Panzern durchgesetzt werden soll. Stattdessen wird immer deutlicher, dass das Universale ohne das kulturell Besondere nicht zu existieren vermag - keine Einheit ohne Vielfalt. Der westliche Anspruch auf ein Monopol der "Ratio" und des "Weltgewissens" ist nicht mehr aufrechtzuerhalten.
Es stellt sich die Forderung nach einem Polylog der Kulturen, nach "multiplen Modernitäten", nach der Möglichkeit, auch über einen unterschiedlichen Begriff des Fortschritts entsprechend der vielschichtigen Kulturen und religionsgeschichtlichen Voraussetzungen der Moderne nachzudenken. In dieser Hinsicht verfügt Lateinamerika über eine große Erfahrung in seiner Geschichte, über ein beträchtliches Reservoir an Einfühlungsvermögen. Gewiss kann man sich fragen, ob die linken Regierungen in Venezuela, Bolivien oder Ecuador den demokratischen Geist ihrer Verfassung achten. Und dennoch: Bezogen auf die Entwicklung der Weltgesellschaft mit ihrem Primat einer rein wirtschaftlich verstandenen Globalisierung wird Lateinamerika der Rolle als "Werkstatt der Welt" mehr als gerecht. Die Antworten, die dort auf die globalisierte Weltgesellschaft gesucht werden, betreffen uns alle.
Der Autor ist Mitglied im Advisory Committee der Harvard Academy for International Studies und akademischer Koordinator für den Dialog der Kulturen und Zivilisationen der Stiftung Schloss Neuhardenberg Berlin.