UMFRAGEN
Prognosen versuchen, die Realität abzubilden
Sonntagabend, kurz vor 18 Uhr in Deutschland: Millionen Menschen sitzen vor den Fernsehgeräten und warten auf die ersten Prognosen. Es ist Wahljahr in Deutschland, vier Länder- und vier Kommunalparlamente werden 2008 neu bestückt - die ersten Urnengänge hat die Republik mit Niedersachsen und Hessen schon hinter sich. Wie der Wahlkampf selbst, gehören Umfragen zum Ritual. Wöchentlich werden neue Trends veröffentlicht: Koch wird Ministerpräsident, Ypsilanti ist beliebter, die Partei Die Linke schafft den Einzug ins Parlament oder eben nicht.
Manchesmal liegen die Forschungsinstitute schwer daneben, oft gelingt aber die Vorhersage bis hinters Komma genau. Tausende von Wissenschaftlern werden dieses Jahr wieder versuchen, das unbekannte Wesen Wähler zu durchleuchten. Nicht immer mit Erfolg. Das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap vermeldete beispielsweise am Abend der Wahlen in Hessen und Niedersachsen um 18 Uhr in der ARD, dass einer Koalition aus SPD und Grünen in Hessen nichts im Wege steht. Die Linkspartei sollte an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, vier Parteien in den Wiesbadener Landtag einziehen. Bekanntlich kam alles anders. "Das war eine ziemlich knappe Entscheidung", erklärt Richard Hilmer, Geschäftsführer von Infratest dimap. Letztlich habe es an 3.000 Stimmen gelegen. Das ist in der Prognose, dem Ergebnis von Befragungen vor ausgewählten Wahllokalen, schwer darstellbar. "Es wird in der Berichterstattung immer sehr deutlich gemacht, dass es sich um Schätzgrößen handelt", sagt Hilmer. Mit der Qualität von Meinungsumfragen seien aber gleichzeitig die Erwartungen des Publikums gestiegen.
Im Vergleich zu anderen Wissenschaften ist die Demoskopie eine relativ junge Disziplin. 1936 erlebte sie in den USA ihren Durchbruch, als George Gallup mit einer repräsentativen Stichprobe den Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl korrekt vorhersagte. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehören Umfragen dann in der Bundesrepublik zum Muss der Wahlberichterstattung. "Es scheint den Bürger zu interessieren", unterstreicht Hilmer. Die Bedeutung bei den Menschen steige mit dem Gefühl, etwas verändern zu können. Dennoch erkennt der Infratest-dimap-Chef keine empirischen Belege dafür, dass Umfragen Wahlen stark beeinflussen. Trotzdem: "Es gibt eine Reihe von Bürgern, die sehr bewusst mit ihrer Stimme umgehen. Sie tun dies auch mit Blick auf Umfragen." Ein Argument für das Verbot der Veröffentlichung von Prognosen kurz vor der Wahl wie etwa in Frankreich kann das für Hilmer aber nicht sein. Es sei nicht sinnvoll, da ein unkontrolliertes Durchsickern von Ergebnissen viel problematischer wäre. Doch verpflichtet dieses Interesse nicht zu hoher Qualität? Davon ist Hilmer überzeugt. Methoden und Verfahren müssten sich ständig weiter entwickeln. Ziel der Demoskopie sei und bleibe es, Stimmungen zu erkennen und von ihnen auf konkretes Verhalten zu schließen - eben auf die Wahlentscheidung.
Auch wenn Prognosen nicht immer hundertprozentig genau sind: "Ein Verbot von Umfragen darf nicht der Schluss sein", meint ebenfalls Hanna Kaspar, Politikwissenschaftlerin an der Universität Mainz. Vielmehr müsse man sich die Fehler bewusst machen, dürfe Ergebnisse nicht verknappt darstellen. Kaspar räumt ein, dass es eine "schweigende Mehrheit" gebe - Menschen, die nicht an Umfragen teilnehmen, aber trotzdem wählen gehen. Bei der allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) würden nur noch 40 Prozent der eigentlich gewünschten Teilnehmer mitmachen.
Daraus ergibt sich ein Problem: Möglicherweise wird die Realität in den Umfragen verzerrt abgebildet. "Wir können nicht sagen: Alle, die wir nicht erwischen, gehen nicht wählen", weiß Kaspar. Menschen, die extreme Einstellungen hätten, würden bei Befragungen eher nicht mitmachen oder unwahre Antworten geben - den Stimmzettel füllten sie am Wahltag komplett anders aus. Ein Faktor, der etwa für extreme Parteien zu treffen könnte. Randpositionen werden ungern öffentlich geäußert. "Das kann auch für die Linkspartei gelten, da sie besonders in Westdeutschland noch nicht zu den etablierten Parteien gehört", glaubt die Politologin, die sich gemeinsam mit dem Mannheimer Umfrage-Forschungszentrum Gesis-Zuma diesem Problem stellen will. Beim aktuellen ALLBUS sollen genau die Personen befragt werden, die normalerweise verweigern.
Bei dem Projekt werden 60 Interviewer besonders geschult, um bundesweit etwa 1.500 schwierige Adressaten zu befragen. Das gesteckte Ziel: "Wir wollen es schaffen, einmal mit hohem Einsatz ein möglichst genaues Abbild der Gesellschaft zu liefern." Denn inhaltlich sei bisher noch nicht nachgefragt worden, wer überhaupt bei Umfragen nicht mitmacht. Liegen die Ergebnisse aus dem Projekt vor, können politische Umfragen besser eingeschätzt werden, ist sich die Wissenschaftlerin sicher. Das wirkt sich unter anderem auf die Qualität der Wahlprognosen positiv aus.