In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Diese Frage richtete der Soziologe Armin Pongs an zwei Dutzend bekannte Soziologen und versammelte die Antworten als "Gesellschaftskonzepte" 1999/2000 in zwei Büchern. Die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben, ist tatsächlich die Kernfrage der Soziologie seit ihrer Begründung durch Émile Durkheim - und ihre Beantwortung das gesellschaftstheoretische Kerngeschäft der Soziologie: Die jeweilige Antwort der Soziologen zielt auf eine triftige Diagnostik der Gegenwartsgesellschaft. An dieses Kerngeschäft der Soziologie schließen meine Überlegungen - als Soziologe, als soziologischer Theoretiker - an. Der Beitrag gliedert sich in drei Teile: Zunächst wird das diagnostische Problem der Soziologie skizziert, dann wird der Begriff der "bürgerlichen Gesellschaft" eingeführt, um abschließend gegenwartsdiagnostisch mit diesem Begriff zu operieren.
Die Leitfrage "In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?" beantworten die befragten Soziologen je nach dem mit verschiedenen Gesellschaftskonzepten, und alle diese Begriffe sind den Leserinnen und Lesern vermutlich hier und da bereits begegnet und werden von ihnen mitunter zur Orientierung verwendet. Demnach leben wir in der "Risikogesellschaft" oder in der "Erlebnisgesellschaft" oder in der "Postmoderne" oder in der "Informations- und Wissensgesellschaft" oder in der "Mediengesellschaft"; in der "Massengesellschaft" oder in der "Konsumgesellschaft" oder in der "Beschleunigungsgesellschaft", in der "Ironiegesellschaft" oder in der "Verantwortungsgesellschaft" oder in der "zweiten bzw. reflexiven Moderne", wie Ulrich Beck behauptet, und ihm geht es darum, (so sagt er) "die grundstürzend sich wandelnde, unbekannte Gesellschaft, in der wir leben", auf den Begriff zu bringen.
Das gilt auch für die anderen aufgeführten Vorschläge. Die Lage in der Soziologie hinsichtlich der gegenwartsdiagnostischen Aufgabe offenbart aber nun - so bleibt auf den ersten Blick festzuhalten - ein Spektrum verschiedener, nicht miteinander abgeglichener aktueller Gesellschaftsbegriffe, und diese "Wimmelbegriffe der Soziologie in gegenwartsdiagnostischer Absicht" - wie ich sie nennen möchte - sind zwar jeder für sich informativ, aber über eines geben sie keine Auskunft: Wie ist diese Gesellschaft eigentlich, in der wir leben, was ist ihr innerstes Prinzip? Die verschiedenen Gesellschaftskonzepte sind einseitig und untereinander unvermittelt, und insofern befindet sich die Soziologie in einer Theorienot.
Im Hintergrund warten nun zwei ernst zu nehmende Theoriekandidaten, zwei Theorien, die von den gegenwärtigen Soziologen im Zweifelsfall herangezogen werden, um über das Prinzip gegenwärtiger Gesellschaft aufzuklären: die Theorie der kapitalistischen Gesellschaft, also die Denktradition der Kritischen Theorie der politischen Ökonomie von Karl Marx, oder die Theorie funktional ausdifferenzierter, eigenlogisch operierender Teilsysteme: Niklas Luhmanns Systemtheorie der Moderne.
Beide Konzepte haben offensichtlich eine längerfristige, integrative Sachhaltigkeit, so dass man sie berücksichtigen muss, aber beide Konzepte, als soziologische Theorien genommen, sind - bei aller Komplexität im Vergleich zu den Wimmelbegriffen soziologischer Diagnostik - offensichtlich je für sich unterkomplex. Darin liegt der Einstiegspunkt für eine soziologische Theorie der "bürgerlichen Gesellschaft". Das Manko der robusten Kapitalismustheorie ist, dass sie systematisch einem Teilsystem - nämlich der Ökonomie - in der Analyse den Vorrang gibt und alle anderen Teilsysteme wie Recht, Politik, Kunst, Wissenschaft mehr oder weniger von der Logik der Ökonomie in Abhängigkeit beobachtet, also systematisch kein Sensorium für die Eigencodierung dieser anderen Teilsphären entwickelt (dabei ist selbstverständlich die Erwartung der Marx'schen Theorie, dass nach dem revolutionären Verschwinden der kapitalistischen Gesellschaft die Politik das führende, alle anderen Sphären vernünftig bestimmende Teilsystem sein werde). Das Manko wiederum der raffinierten Systemtheorie der Moderne, die den anonymen Eigenlogiken, der Autonomie der ausdifferenzierten, nicht hierarchisch zueinander gestellten gesellschaftlichen Teilsysteme - wie Recht, Ökonomie, Politik, Erziehung, Medien, Kunst, Religion, Wissenschaft - gespannte Aufmerksamkeit widmet, 1 ist, dass sie keine Akteursgruppen, keine Trägergruppen oder Klassen in der gegenwärtigen Gesellschaft mehr beobachten will oder - eben so, wie sie ansetzt - mehr beobachten kann.
Das wiederum kann die Marx'sche Theorie noch mitbeschreiben, weil sie neben den anonymen Markt- und Kapitalmechanismen noch die zugehörige Klasse der Bourgeoisie (bzw. ihren Gegenpart: die Arbeiterklasse) angibt und damit Akteursgruppen mitbeobachten will - allerdings eben einseitig nur die über die Ökonomie, über die Stellung im Produktionsprozess bestimmbaren Akteursgruppen. 2 Die Theorienot der Soziologie in gegenwartsdiagnostischer Absicht wiederholt sich, allerdings auf dem Niveau einer sachhaltigen, langfristig beobachtenden Theorie bei ihren beiden ernsthaften Theoriekandidaten.
In dieser Theorienot bietet sich ein Vorschlag an: Die angemessene Antwort auf die Frage In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? lautet: "In der bürgerlichen Gesellschaft!". "Bürgerliche Gesellschaft" ist die aufschlussreichste soziologische Kategorie zur Analyse der Gegenwartsgesellschaft, sie ist der allen anderen Gesellschaftsbegriffen überlegene, sie als Teilmomente integrierende Begriff.
Das ist die These, das ist der Vorschlag, der hier für die Soziologie in gesellschaftstheoretischer Hinsicht gemacht werden soll. Da die gesellschaftliche Selbstbeobachtung und -beschreibung tatsächlich in hohem Maß an der Verfasstheit der Soziologie hängt, kommt es auf diesen Theorieeingriff innerhalb des Faches an. Und da hier, in diesem Beitrag, soziologisch argumentiert und ein soziologischer Begriff "bürgerliche Gesellschaft" konzipiert wird, ist klar, dass der Soziologe mit "bürgerlicher Gesellschaft" nicht - wie der Politikwissenschaftler - die "Zivilgesellschaft" oder "Bürgergesellschaft" meint, nicht - wie der Ökonom - von der "neoliberalen Gesellschaft" handelt und nicht - wie der Sozialphilosoph - normativ von der "guten Gesellschaft" spricht.
Die diagnostische Frage des Soziologen lautet ja nicht: Ist die Gesellschaft, in der wir leben, eigentlich gut? Sie lautet vielmehr: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Und um die vorgeschlagene Begriffsoperation "bürgerliche Gesellschaft" innerhalb der Soziologie zuzuspitzen, um gleich das systematische Umkehrpotential der Theorieoption anzudeuten: Hier wird nicht versucht, die Phänomene einer so genannten "Rückkehr zur Bürgerlichkeit" oder "neuen Bürgerlichkeit" (ideologiekritisch) von den bekannten soziologischen Konzepten der Moderne aus als Sekundärphänomene zu entziffern, sondern der Vorschlag ist umgekehrt, alle Phänomene der Gegenwartsgesellschaft, und zwar einschließlich der Soziologie als ihrer Beobachtungsdisziplin, von der langfristig gedachten Kategorie der "bürgerlichen Gesellschaft" her aufzuklären und zu beschreiben.
Wenn man so mit dem Begriff der "bürgerlichen Gesellschaft" in gegenwartsdiagnostischer Absicht operieren will, rekurriert man auf einen Begriff der historischen Soziologie. Anders gesagt: Die Pointe des Begriffes in gegenwartsdiagnostischer Absicht ist, dass er nicht originell ist, sondern ein historisch bekannter, gesättigter, erlittener Begriff, von dem aus sich die gegenwärtige Gesellschaft begreifen lassen soll. Mit historisch-soziologisch ist gemeint, dass hier "bürgerliche Gesellschaft" nicht geschichtsphilosophisch verstanden wird, also nicht in teleologischer Deutung ihres notwendigen Auftauchens und Wiederverschwindens. Der analytische Vorteil der Kategorie ist nun in jedem Fall - und das macht sie komplexer als die Theorie des Kapitalismus oder als die Systemtheorie - der, dass sie von vornherein mehrere Ebenen miteinander verklammert, bei der Beobachtung erwartbar macht, nämlich: verschiedene Strukturen und Mechanismen ("bürgerliche Gesellschaft" als Systembegriff), Akteure oder Akteursgruppen (eben das "Bürgertum" oder "Bürgertümer"), und eine Haltung ("Bürgerlichkeit").
Um einen vollen, in sich differenzierten Begriff der "bürgerlichen Gesellschaft" zu erreichen, muss man die verschiedenen Begriffstraditionen, die je einen anderen Akzent gesetzt haben, zusammenführen, also eben die westeuropäische Begriffstradition der Bourgeoisie-Gesellschaft (der kapitalistischen Ökonomie), die angelsächsische der "Civil Society" und den deutschen Diskurs des Bildungsbürgertums. 3
Aber der soziologische Begriff "bürgerliche Gesellschaft" ist eine Setzung, eine Konstruktion. Diese Kategorie einer historischen Soziologie in gegenwartsdiagnostischer Absicht enthält - das ist der Kern des Vorschlages - mindestens drei Strukturmomente, drei nicht aufeinander rückführbare Strukturprinzipien, denen zugleich drei nicht aufeinander rückführbare Akteursgruppen entsprechen: 4 erstens das Prinzip der kapitalistischen Unternehmung, zweitens das Prinzip des Vereins oder der selbstgesetzten geselligen Assoziation, drittens das Prinzip der selbstregulierten Welt- und Selbsterschließung. Die "bürgerliche Gesellschaft" ist also mindestens die Gesellschaft des kalkulierten Risikoeinsatzes von Kapital durch private Unternehmen und bringt insofern eine Bourgeoisie hervor; die "bürgerliche Gesellschaft" ist ebenso mindestens die Gesellschaft des kalkulierten Risikoeinsatzes von spontanen, hinsichtlich ihrer Zwecksetzung überraschenden Vereinsgründungen als Substrat der Öffentlichkeit, dem nach innen egalitären und nach außen sozial exklusiven Assoziationswesen, und generiert insofern ein Vereins- oder Assoziationsbürgertum (Prototyp: der plädierende Anwalt), den Kern einer Civil Society; und die "bürgerliche Gesellschaft" ist schließlich mindestens eine Gesellschaft des selbstgewagten, selbstdurchlittenen Risikoeinsatzes von Welt- und Selbstdurchdringungen, und bringt insofern ein Bildungsbürgertum hervor.
Als Systembegriff strukturiert die "bürgerliche Gesellschaft" über die Mechanismen der privaten Kapitaloptimierung die Ausdifferenzierung der Ökonomie und der Technik, über die Mechanismen der Unterwerfung unter selbstgesetzte Themen und Normen der öffentlich agierenden Assoziationen die Sphären des Rechts und der Politik, über die Mechanismen des Begehrens, dem eigenen Begehren in symbolischen Formen individuellen Ausdruck zu verleihen, die Sphären der Wissenschaft, Kunst und der Religion.
So als Kategorie eingeführt, ist "bürgerliche Gesellschaft" nicht dasselbe wie "kapitalistische Gesellschaft", weist aber den Kapitalismus mit Struktur (Kapitalkalkulation und -spekulation) und Akteursgruppe (Bourgeoisie) als eines ihrer Momente auf; "bürgerliche Gesellschaft" ist kategorial komplexer angelegt als "kapitalistische Gesellschaft", weil sie den Eigenlogiken anderer Sphären Raum gibt; sie ist zugleich komplexer angelegt als die Systemtheorie, weil sie - neben den Mechanismen von Teilsystemen - auch auf Akteursgruppen hin die Verhältnisse beobachtet: eben das Bürgertum (bzw. alternative Akteure wie Kriegeradel, Bauern, Industriearbeiter) oder die in Spannung zueinander stehenden "Bürgertümer".
Historische Soziologie braucht einen langen Anlauf und einen langen Atem, damit sie die Gegenwartsgesellschaft adäquat treffen kann. Das hat niemand so deutlich erkannt wie Max Weber, die Gründungsfigur einer historischen Soziologie der spezifisch europäischen Moderne. Weber hat gesehen, dass es zur unwahrscheinlichen Emergenz, zum Auftauchen einer solchen "bürgerlichen Gesellschaft", erstmals rudimentär in der "okzidentalen Stadt" des Mittelalters kommt. Der Kern von Webers Theorie der europäischen Moderne ist ja nicht die religionssoziologische These der Wahlverwandtschaft von Protestantismus und Kapitalismus, sondern historisch und logisch geht das von ihm konturierte, typisierte Phänomen der okzidentalen Stadt dieser Konstellation von protestantischer Weltfrömmigkeit und kapitalistischer Betriebs- und Arbeitsorganisation voraus. 5
So weit ist Weber in seiner historischen Soziologie zurückgegangen, nur um seine Gegenwart, die Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrer Eigentlichkeit treffen zu können. Er hat gesehen, dass es in diesen mittelalterlichen Städten erstmals zu bestimmten, nicht aufeinander rückführbaren, aber sich kumulativ verstärkenden "Sozialerfindungen" gekommen ist, die in stark modifizierter Form noch in seiner Gegenwartsgesellschaft triftig seien: der scharfen Trennung von privater und öffentlicher Sphäre auf engstem Raum; des Privateigentums von Grund und Haus in der Stadt, von dem aus die Bürger ihr gewerbliches Erwerbsleben für den Markt, ihre um den Zuschlag des Anderen werbende Produktion entfalten; der "Autokephalie", also der gemeinsam eigenköpfigen Verwaltung dieser rechtlich sich gleichstellenden Bürger durch selbstgesetzten Magistrat und selbstgesetztes Gericht; schließlich das gemeinsam im Abendmahl kommunizierte, gläubig gepflegte Gottesverhältnis dieser Bürger als Basis der Selbstvergewisserung, das schließlich in der Reformation, im zweifelnden, dann eigenverantwortlichen Rückgriff auf die "Schrift" seine die Individuen bildende, weltzugewandte protestantische Form annimmt.
Hier in der okzidentalen Stadt ist so etwas wie die bürgerliche Gesellschaft in Grundzügen erstmals sichtbar geworden, und der Typus des auf Verhaltenskunst und Zivilisation, Aushandeln (bargaining) und individuell erhoffte, vielleicht gewährte Gnade konzentrierten Bürgers tritt konturscharf bereits gegen die Bauern auf, als in die Naturkreisläufe der Nahrungsproduktion eingebundene Subjekte, und gegen den Adel (in und außerhalb der Stadt), der genuin über eine Gewaltkompetenz durch Körpereinsatz und Waffenschulung verfügt. In der gegenwartsdiagnostischen Bewährung am Schluss ("Stechproben") wird deutlich werden, inwiefern die okzidentale Stadt als Emergenzort der bürgerlichen Gesellschaft Bedeutung für die Gegenwart hat.
Die weitere Entwicklung der Gesellschaftsgeschichte kann hier nur außerordentlich gerafft angedeutet werden. Im Umweg über die fürstlichen Territorialstaaten der frühen Neuzeit, die durch staatliche Verwaltungsinnovation, Wissenschafts- und Wirtschaftsförderung, Militärorganisation selbst bedeutend für die Konstitution der Moderne werden und in der die mittelalterlichen Städte zunächst ihren Rang einbüßen, wird das bürgerliche Prinzip über Jahrhunderte schließlich doch eine überlokal strukturierende Größe. Es bildet sich die "Civil Society", wie sie Adam Ferguson, Adam Smith und dann Georg Wilhem Friedrich Hegel und Alexis de Tocqueville unter dem Titel der "bürgerlichen Gesellschaft" beschrieben haben. Das 19. Jahrhundert tritt als das "bürgerliche Zeitalter" auf, auch in den refigurierten Stadtkommunen innerhalb der Nationalstaaten, wobei allerdings die "bürgerliche Gesellschaft" und die bürgerlichen Gruppen eine Insel bilden inmitten der überwiegend bäuerlichen Bevölkerungsmasse und des nun vom Kapitalismus generierten städtischen, so genannten Industrieproletariats.
Die nicht zu kupierenden Krisen der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert und die sich entwickelnde Krisensemantik innerhalb des Bürgertums, die auch auf der rivalisierenden Heterogenität der drei Bürgertümer: der Bourgeoisie, der Assoziationsbürger oder Citoyens und der Bildungsbürger beruhen, initiieren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die großen nichtbürgerlichen Gesellschaftsprojekte der Moderne. Diese nehmen dann, unter intellektueller Mitbeteiligung der aus dem Bürgertum abspringenden Bürger (von Karl Marx über Bertolt Brecht bis Theodor W. Adorno, von Georges Sorel über Ernst Jünger bis Martin Heidegger), seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts reale Gestalt an. Helmuth Plessner hat 1924 in seinem Buch "Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus" sieben Jahre nach der Oktoberrevolution und unter dem unmittelbaren Eindruck des italienischen Faschismus die doppelte reale Möglichkeit einer durchgehend nichtbürgerlichen Verfasstheit der Moderne erkannt, indem er von der doppelten Übernahme der Moderne im Zeichen der "Gemeinschaft", des internationalistischen Kommunismus einerseits, eines nationalistischen oder völkischen Kommunismus andererseits sprach. 6
Versetzt man sich für einen Moment in das Jahr 1940, in das Europa bis zum Ural, kann man die verschiedenen sich dezidiert antibürgerlich stilisierenden und faktisch nichtbürgerlich strukturierten Gesellschaftsprojekte im europäischen Raum (bis auf die Schweiz und Großbritannien) in ihrer Wucht noch einmal auf sich wirken lassen, die reale Möglichkeit einer nichtbürgerlichen Verfasstheit der Moderne bei Entfaltung zentraler Momente der Moderne: Technik, Naturwissenschaft, Industrialisierung, Militärorganisation, fortschreitende Medizin, Verkehrsmobilität, moderner Städtebau, Sozialversicherung, Aufstiegsmobilität der Massen, Massenmedien und Massenkultur. Als Prototyp der Gemeinschaft hat der sich sozialistisch organisierende Industriearbeiter und Arbeiterbauer einerseits, der mit dem bäuerlichen Neusiedler und dem neuen Kriegeradel verschmolzene Ingenieursarbeiter andererseits den Typus des Bürgers abgelöst.
In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? So lautet die Frage, und die Antwort ist gegenwartsdiagnostisch: in der "bürgerlichen Gesellschaft". Die eingeführte und refigurierte historisch-soziologische Kategorie ist geeignet, die Gegenwartsgesellschaft prägnant zu bestimmen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts - und einen so langen Atem sollte eine soziologische Gegenwartsdiagnostik schon aufbringen - leben die sich in der Europäischen Union zusammenschließenden Gesellschaften in einem transnationalen Verbund bürgerlicher Vergesellschaftung; genauer gesagt: Es handelt sich soziologisch um die "bürgerliche Gesellschaft" nach ihrer Kontingenzerfahrung, nach ihrer Vernichtungserfahrung. Der auf dem Privateigentum beruhende Kapitalismus, der sich neben der fortdauernden Unternehmerfamilienform um den Aktionärskapitalismus erweitert und differenziert, ist in Kraft, ebenso ist das Vereins- oder Assoziationsprinzip, das sich unter dem Titel und in der Gestalt eines engmaschigen Netzes von "Bürgerinitiativen" erneuert, außerordentlich wirksam, das selbstriskierte Weltdurchdringungsprinzip nimmt die massenhafte Gestalt der "Individualisierung" an. Mit "bürgerlicher Gesellschaft nach ihrer Kontingenzerfahrung" ist das Begleitwissen gemeint, dass sie als Formation der Moderne (für die Existenz der Moderne) nicht notwendig ist, ebenso wie allerdings auch ihr Verschwinden nicht notwendig ist.
1989 nun ist soziologisch gesehen ein Strukturereignis, insofern es zu einer äußeren Fremdaffirmation dieser inzwischen etablierten bürgerlichen Gesellschaft der Moderne kommt, insofern die restbürgerlichen, vor allem sich im Zuge einer revolutionären Herstellung des öffentlichen Raumes rasch neu verbürgerlichenden Akteure der nichtbürgerlichen ostmitteleuropäischen Gesellschaften die Prinzipien der Assoziationsbildung, dann des Privateigentums, schließlich der riskanten Welt- und Selbstentwürfe in ihre Vergesellschaftung einführen. Bürgerliche Gesellschaft wird damit zur historisch anknüpfenden, sich fortsetzenden und in immer neuen Erscheinungen sich wandelnden Prägnanzgestalt der gesellschaftlichen Gegenwart.
Die Soziologen haben den Umbruch von 1989 bisher in seiner Bedeutung systematisch unterschätzt - in der Theorie der so genannten reflexiven oder zweiten Moderne ist er zum Beispiel kein Thema. Soziologisch gesehen läuft nämlich seit 1989 in allen Prozeduren, in jeder Strukturierung der Gegenwartsgesellschaft eine Begleitinformation mit, genauer gesagt eine Doppelinformation: keine national-sozialistische Vergemeinschaftung der Moderne und keine vernunft-sozialistische Vergemeinschaftung der Moderne zu sein. Soziologisch gesehen waren beide realmögliche Formationen der Moderne. Das ist der schlichte Grund dafür, dass der Gesellschaftsbegriff der Moderne allein nicht mehr zureichend sein kann, um die Gegenwartsgesellschaft zu bestimmen.
In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Soziologisch gesehen in der "bürgerlichen Gesellschaft". Nicht das 19. Jahrhundert ist die bürgerliche Epoche schlechthin (kann es gar nicht sein, weil die Mehrheit der Menschen der damaligen Gesellschaft gar nicht von den Strukturen bürgerlicher Gesellschaft erfasst war), sondern die Gegenwartsgesellschaft ist das bürgerliche Zeitalter par excellence, sie ist das durchgesetzte bürgerliche Zeitalter, sie ist die bürgerliche Epoche der Weltgeschichte. 7 Das soll abschließend an vier Punkten der Gegenwartsgesellschaft demonstriert werden. Von der Kategorie der "bürgerlichen Gesellschaft" ausgehend muss man die soziologische Kunst üben, in aktuellen Figurationen unter neuen Namen und bei allen Wandlungen die bürgerlichen Kommunikationsfiguren wahrzunehmen und freizulegen.
Massengesellschaft
Als Indiz dafür, dass die Gegenwart tendenziell eher ein nachbürgerliches Zeitalter sei, wird oft das Faktum der Massengesellschaft angeführt, genauer gesagt der konsumistischen Massenkultur, welche die Lebensformen der bürgerlichen Gesellschaft hinter sich gelassen habe. Soziologisch gesehen verhält es sich umgekehrt: Wir leben nicht in der Massengesellschaft statt in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern in der verbürgerlichten Massengesellschaft (seit ca. 25 Jahren rechnen sich konstant 56 bis 60 Prozent zur Mitte der Gesellschaft und 10 bis 12 Prozent zur oberen Mittelschicht). Wer sich einmal das zwischen 1770 und 1830 weitverbreitete "Journal des Luxus und der Moden" vergegenwärtigt hat (vielleicht nicht Johann Wolfgang von Goethe als ständigen Leser, wohl aber Christiane Vulpius), weiß, dass das konsumistische Weltverhältnis oder das unendliche "System der Bedürfnisse" (wie Hegel es nennt) genuin zur bürgerlichen Gesellschaft, gerade in ihrer weiblichen Ausprägung, gehört.
Das Novum heute ist die Massengesellschaftlichkeit dieses marktförmigen Konsumprinzips. Damit ist gemeint, dass das Prinzip einer Gesellschaft der Eigentümer, das heißt der auf Gewinn hin wirtschaftenden Besitzindividualisten, mit einem breiten Spektrum ungleicher, immer auch riskanter, instabiler, von Insolvenz bedrohter Vermögensverhältnisse (von Wohn- bis hin zum Kapitaleigentum) nun tendenziell allen Mitgliedern der Gesellschaft gegönnt oder zugemutet wird: den Bauern und der klassischen Industriearbeiterschaft. Wer weiß, dass die shopping mall, oft als die grundstürzend neue Erscheinungsform der konsumistischen Massengesellschaft zitiert, eine Erfindung des exilierten Wiener Architekten Viktor Grünbaum ist, der in den USA die bereits von den bürgerlichen Konsumentinnen des 19. Jahrhunderts geschätzten, weil vor Belästigung und Witterung schützenden Passagen in eine neue Bauform verwandelte, erkennt leichter die bürgerliche Grundfiguration der konsumistischen Massengesellschaft.
Mediengesellschaft
Viele Soziologen, die selbstverständlich von der Gegenwart als nachbürgerlicher Epoche ausgehen, sind vom Novum einer Mediengesellschaft schwer beeindruckt, die als Massenmediengesellschaft in immer neuen Formaten vollständig neue populäre Kommunikationsformen stifte. Hier lohnt es sich, genau hinzusehen. Auffällig ist doch, dass die Sender in die ständig sich erneuernde Unübersichtlichkeit von aufquellenden expressiven, differenten Lebens- und Ausdrucksformen gymnasial gebildete Moderatoren und Mediatoren (Thomas Gottschalk, Günther Jauch, Harald Schmidt, Sandra Maischberger, Anne Will, für die USA etwa Oprah Winfrey) in populäre Sendungen schicken, die in einer medialen Massenöffentlichkeit bürgerliche Denk- und Distanzformen implementieren. Das reicht von raffinierten Fragetechniken bei geringer Information (Millionenquiz) über die extemporierende Sprachgewandtheit in entspannter Massenöffentlichkeit, Differenzierung und Reflexion von Gefühlen und Affekten, klassisch aufklärerischer Dialogführung bis hin zu mit romantischer Ironie und doppelbödigen Sprachspielen die Codierungen der Gesamtgesellschaft beobachtenden Shows. Im Court-room-Drama kommt es medientäglich zur konfliktbezogenen gerichtlichen Prüfung von Werten und Normen, also einem Einüben in ein bürgerliches Kernverfahren der rechtsförmigen Klärung von Streit.
Inwiefern sich das "Wikipedia"-Phänomen - um ein markantes Internet-Phänomen miteinzubeziehen - insgesamt als eine Kombination von bourgeoiser Unternehmung, Quasi-Assoziationswesen und in jedem Fall bildungsbürgerlichem Verlangen nach enzyklopädischer Weltdurchdringung verstehen lässt, sollte erforscht werden.
Vergesellschaftung im virtuellen Raum
Ein weiterer Topos der soziologischen Gegenwartsdiagnostik ist, dass die gegenwärtige Gesellschaft tendenziell eine mediengestützte Vergesellschaftung sei: eine sich im virtuellen Raum vollziehende Vergesellschaftung. Bereits Luhmann hat mit seiner Theorie der funktional ausdifferenzierten Teilsysteme und ihren je entsprechenden abstrakten Kommunikationsmedien - dem Geld, der Macht - der lokal gebundenen Kommunikation, beispielsweise der Stadt, keine Relevanz mehr eingeräumt.
Demgegenüber lässt sich beobachten, dass die virtuellen, überlokalen Medien voll von Architekturdebatten sind, von intensiven Auseinandersetzungen um die konkrete bauliche Gestalt einzelner Städte. Neben der Investition in die technisch überlokalen Kommunikationsmedien gibt es unter dem Stichwort der "europäischen Stadt" eine Daueraufmerksamkeit für die Physiognomie der überkommenen Stadt als gebauter Rahmen lokaler Kommunikation unter Anwesenden. Obwohl nicht alle Städte dem Prinzip der Weber'schen "okzidentalen Stadt" entsprechen (etwa die Residenzstädte gerade nicht), lässt sich vom Theorem der "bürgerlichen Gesellschaft" her die institutionalisierte Dauerreflexion über die Baugestalt der Stadt als eine historische Vergewisserung der Ursprungsorte der eigenen Vergesellschaftung begreifen. Im Leitbild der "europäischen Stadt" beugt sich die Gegenwart zur okzidentalen Stadt als der verkörperten Leitidee bürgerlicher Vergesellschaftung zurück, die bei allen architektonischen Innovationen erkennbar bleiben soll - insbesondere auch für die touristische Kommunikation. Gerade die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft kann die Relevanz des europäisch-städtischen Kommunikationsraumes mitten in einer medial gestützten Vergesellschaftung für die Gegenwartsgesellschaft sichtbar werden lassen.
Erosion der bürgerlichen Familie
Die soziologische Gegenwartsdiagnostik ist zudem fixiert auf die so genannte Erosion der bürgerlichen Familie zugunsten der Single-Gesellschaft oder verschiedener partnerschaftlicher Lebensformen. Demgegenüber lässt sich das ungebrochene Faszinosum der bürgerlichen Familie in der Gegenwartsgesellschaft beobachten. Das wird nicht nur an allen Zuwanderern bemerkbar (schon der Soziologe Helmut Schelsky sprach von der Familie als der transportablen Institution). Auch im Verlangen gleichgeschlechtlicher Paare nach rechtlicher Anerkennung als Ehe samt allen Eigentums- und Vererbungsrechten samt Adoptionsrecht steckt eine strukturelle Tiefenanerkennung der Familie als der bürgerlichen Form der Privatsphäre - gerade aus den als subversiv vermuteten Szenen.
Die Veränderung betrifft insgesamt die Frauen. Schon immer waren Frauen Mitträger und Mittäter der bürgerlichen Gesellschaft: aus der privaten Sphäre heraus verantwortlich für die Kinder und Einübung in die Sprachkommunikation, als bedeutende Konsumentinnen am Markt, als den Buchmarkt dominierende Leserinnen, als Erbinnen, aber seit dem 19. Jahrhundert auch bereits als Trägerinnen der Geschäftsbeziehungen der Familien (man denke an "Frau Thomas Mann", unter welchem Titel Katja Mann die Geschäftsbeziehungen und das Vermögen der Familie Mann managte).
Seit ihrer "Emanzipation" decken die Frauen mit ihrem Spagat zwischen Privatsphäre, Beruf und Öffentlichkeit das gesamte Spektrum der bürgerlichen Gesellschaft ab. Frauen sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Karyatiden, die Trägerfiguren der bürgerlichen Gesellschaft geworden, auf deren Balkonen sie zugleich stehen. Durch die Frauenbewegung hat sich für die Frauen viel verändert, an den Prinzipien der bürgerlichen Vergesellschaftung - Privateigentum, Assoziationswesen, Bildungsbürgerlichkeit - aber nichts. Schärfer gesagt: Soziologisch gesehen ist die Emanzipation der Frauen die bedeutendste innergesellschaftliche Selbstaffirmation der bürgerlichen Gesellschaft seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Um gegenwartsdiagnostisch soziologisch adäquat analysieren zu können, das war der Ausgangspunkt, braucht man eine Kategorie mit langem Atem. Mit der Theorie der "bürgerlichen Gesellschaft" als soziologischer Theorie kehrt die Soziologie zum Kernpunkt der Gegenwartsgesellschaft zurück, und diese Gegenwartsgesellschaft gewinnt in der Soziologie eine relativ stabile, treffende Beobachtungssprache.
1 Vgl. Niklas
Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie,
Frankfurt/M. 1984.
2 Unübertroffen plastisch die
Beschreibung der Dynamik von Kapitalismus und der Akteursgruppe der
Bourgeoisie: Karl Marx/Friedrich Engels, Das Manifest der
Kommunistischen Partei (1848), Stuttgart 1981, S. 23 - 30.
3 Ohne die großen Projekte der
"Bürgertumsforschung", der sozial-, politik-,
kulturgeschichtlichen Bürgertumsforschung, wie sie seit den
Initiativen der Historiker Jürgen Kocka, Hans Ulrich Wehler
und Lothar Gall, Thomas Nipperdey auch von Klaus Tenfelde, Manfred
Hettling, Eckart Conze, Stefan Ludwig Hoffmann, Andreas Schulze bis
in die jüngste Zeit hinein fortgesetzt wurden, wäre die
Refigurierung eines solchen soziologisch relevanten Begriffes der
"bürgerlichen Gesellschaft" nicht möglich.
4 Damit geht die hier rekonstruierte
Kategorie z.B. über Jürgen Kockas doppelte Lesart des
Bürgerlichen (Bourgeoisie einerseits, Citizenship
andererseits) hinaus.
5 Vgl. Max Weber, Die Stadt, hrsg. v.
Wilfried Nippel, Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe Bd.
1/22, Tübingen 2000.
6 Vgl. Helmuth Plessner, Grenzen der
Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924). Mit
einem Nachwort von Joachim Fischer, Frankfurt/M. 2002.
7 Zur Analyse der weltgesellschaftlichen
Dimension bürgerlicher Vergesellschaftung: Joachim Fischer,
"Weltgesellschaft" im Medium der "bürgerlichen Gesellschaft",
in: Sociologia Internationalis, Bd. 43 (2005), S. 59 -
98.