Kosovo
Wird die neue Republik mit einer Unabhängigkeit zweiter Klasse leben müssen?
Die Fakten sind geschaffen, nun muss die Welt die Folgen bewältigen: Am 17. Februar 2008 haben die albanischen Abgeordneten des kosovarischen Parlaments in Pristina einstimmig die Unabhängigkeit des Kosovos proklamiert. Abgeordnete der serbischen Minderheit nahmen nicht an der historischen Abstimmung teil, sie boykottierten die Sitzung. Seither haben mehr und mehr Staaten die Proklamation von Pristina und damit den neuen Staat Kosovo anerkannt, auch Deutschland. Diese Entwicklungen lassen sich nicht mehr zurückdrehen, denn auch wenn sich die Beziehungen zu einem Staat abbrechen lassen - die Souveränität aberkennen kann man dem Kosovo nicht mehr. Aus dem Zerfallsprozess von Jugoslawien ist somit, fast 20 Jahre nach dessen Beginn, der sechste Staat hervorgegangen.
Allerdings ist die Befürchtung nicht unbegründet, dass die neue Republik Kosovo mit einer "Unabhängigkeit zweiter Klasse" wird leben müssen. Zur ersten Einschränkung ihrer Souveränität haben sich die Kosovo-Albaner noch selbst bereit finden müssen: Die ehemalige Provinz Serbiens wird laut dem für die Zukunft des Gebietes verbindlichen Plan des früheren UN-Vermittlers Martti Ahtisaari zunächst nur eine eingeschränkte Souveränität besitzen. Vor allem beim Minderheitenschutz haben die neuen internationalen Missionen im Kosovo im Zweifelsfall ein Eingriffsrecht, mit dem sie Fehlverhalten der Regierung in Pristina korrigieren können. Die Lage ähnelt jener in Bosnien-Herzegowina, wo seit dem Ende des Krieges 1995 ein Hoher Repräsentant der Staatengemeinschaft die Umsetzung der Friedensordnung überwacht und zur Not einheimische Politiker entlassen kann, die dagegen verstoßen. Der ehemalige Freischärlerführer und heutige Ministerpräsident Hashim Thaci wird also keineswegs der Regierungschef eines wirklich souveränen Staates sein.
Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus Umständen, die nichts mit dem Ahtisaari-Plan zu tun haben: In vielen internationalen Organisationen, wird dem Kosovo auf absehbare Zeit die Mitgliedschaft verwehrt sein. Überall dort, wo die Gegner der kosovarischen Unabhängigkeit - vor allem Russland, Serbien und China - dies verhindern können, werden sie es tun, so im Falle der Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
Es ist nicht zuletzt die Rolle der OSZE, die in den kommenden Wochen von Bedeutung sein wird. Denn die OSZE soll laut Ahtisaari-Plan eine wichtige Rolle in dem zentralen Punkt des Lösungspakets spielen, dem Minderheitenschutz. Wörtlich heißt es dazu im Ahtisaari-Plan, der so etwas wie ein noch über der Verfassung stehendes eigentliches Gründungsdokument des Staates Kosovo ist: "Die OSZE wird gebeten, eine Mission im Kosovo aufrecht zu erhalten, einschließlich einer umfangreichen Feldpräsenz, um die demokratische Entwicklung des Kosovos zu unterstützen…" Hinter dieser trockenen Sprache verbirgt sich mehr als nur die Anweisung für eine Nebenrolle. Die OSZE-Mission soll laut Ahtisaari-Plan gleichsam Auge und Ohr der Staatengemeinschaft im Kosovo sein, um zu überwachen, ob die umfangreichen Minderheitenrechte, auf deren Umsetzung sich Europas jüngster Staat verpflichtet hat, auch eingehalten werden.
Die OSZE unterhält im Kosovo die größte Mission ihrer Geschichte. Sie besteht seit Juli 1999, wurde also kurz nach dem Ende des Luftkriegs der Nato gegen das Jugoslawien von Slobodan Milosevic eingesetzt. Die Besonderheit an der Mission, im Unterschied etwa zur UN-Mission im Kosovo (Unmik) war von Beginn an die ausgeprägte Präsenz in den Regionen: Die OSZE unterhält außerhalb von Pristina Büros in fünf Regionalzentren und 33 Gemeinden. Ihre Berichterstatter bekommen also mit, was den UN-Diplomaten in der mitunter vom "wirklichen Kosovo" etwas abgehobenen Provinzhauptstadt leicht entgehen kann. Sie beobachten, wie sich Bürgermeister und Gemeinderäte verhalten. Dabei geht es auch um sehr praktische, lebensnahe Fragen: Funktioniert die Umsetzung von Gerichtsurteilen? Werden Lizenzen und andere Dokumente auch an Angehörige der Minderheiten korrekt ausgegeben? Werden Eigentumsfragen, bei denen oft die Zusammenarbeit mit serbischen Behörden nötig ist, weil viele Katasterunterlagen in Belgrad lagern, gelöst? Gerade in Gegenden mit gemischter Bevölkerung beziehungsweise dort, wo es serbische Enklaven gibt, ist das von Bedeutung. So soll sichergestellt werden, dass sich die Taten der Politiker nicht in multiethnischen Sonntagsreden erschöpfen. Der Aufwand, der dafür betrieben wird, ist groß: Im Jahr 2007 hatte die OSZE dafür fast 1.000 Mitarbeiter (etwa 710 aus dem Kosovo und gut 280 Entsandte) mit einem Budget von 35 Millionen Euro.
Es ist also vor allem im Interesse Serbiens, dass die OSZE-Mission im Kosovo weiter arbeiten kann. Deshalb mag es für Außenstehende zunächst überraschend sein, dass ausgerechnet Serbien und Russland in den vergangenen Monaten mehrfach gedroht haben, die OSZE-Mission im Kosovo zu "kippen". Belgrad und Moskau argumentierten dabei legalistisch: Sollte das Kosovo gegen den Willen Belgrads unabhängig werden, so sei dies eine Verletzung der territorialen Integrität Serbiens, mithin ein Bruch des Völkerrechts und eine Verletzung der UN-Resolution 1244, durch die das Kosovo 1999 übergangsweise zu einem Protektorat der Vereinten Nationen erklärt wurde. Folglich sei auch das OSZE-Mandat, das aus dieser Resolution abgeleitet ist, hinfällig. Da in der OSZE alle Teilnehmerstaaten ein Veto-Recht besitzen, war dies keine leere Drohung. Schon im Dezember 2007 konnten Belgrad und Moskau eine Regelung durchsetzen, laut der das Ende der Mission praktisch jederzeit eingeleitet werden kann: "Jeweils am Monatsende wird das Mandat um einen weiteren Monat verlängert, sofern kein Teilnehmerstaat dagegen schriftlich beim Vorsitz des Ständigen Rates Einspruch erhebt. Sollte das Mandat enden, wird die Mission unverzüglich ihre Schließung in die Wege leiten" heißt es darin.
Diese Regelung, die im Falle ihrer Umsetzung vor allem gegen serbische Interessen gerichtet wäre, gehörte zu der Drohkulisse, die Serbien und Russland im Ringen um den künftigen Status des Kosovos aufgebaut haben. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich die Verhältnisse nun hinter den Kulissen gedreht haben. Nachdem immer deutlicher geworden war, dass die OSZE als Instrument zur Beobachtung der Minderheitenrechte womöglich ausfallen würde, hat sich vor allem die Europäische Union, die künftig noch stärker als bisher die Hauptlast bei der Überwachung der Demokratisierung des Kosovos tragen wird, nach anderen Möglichkeiten umgeschaut. Es wurden Planungen begonnen, zur Not eigene Kräfte zur Überwachung des Minderheitenschutzes abzustellen. Hinter vorgehaltener Hand stellen einige westliche Diplomaten sogar die politisch unkorrekte Frage, ob eine Schließung der OSZE-Mission im Kosovo nicht sogar im Interesse der EU liege. Denn solange die OSZE im Kosovo tätig ist, können Moskau und Belgrad auf die Ausgestaltung des Mandats (oder auf dessen Ende) Einfluss nehmen und auf diese Weise jederzeit politischen Druck ausüben. Sollte die neue Internationale Verwaltungsbehörde mit dem niederländischen EU-Beamten Peter Feith an der Spitze hingegen gezwungen sein, als Ersatz für die OSZE-Mission eine eigene Feldpräsenz aufzubauen, so wäre diese wenigstens nicht länger Störmanövern aus Belgrad und dem Kreml ausgesetzt. Das ist nur scheinbar eine Detailfrage. An ihr wird sich auch entscheiden, wie gut die Statuslösung für das Kosovo insgesamt funktioniert.
Eine andere Frage hat freilich nichts mit juristischen und diplomatischen Spitzfindigkeiten zu tun. Sie betrifft das regionale Nachbeben in der Region. Selbst die Befürworter der Idee, das Kosovo zu einem Staat zu machen, haben nie bestritten, dass es als Reaktion darauf kurzfristig zu politischen Erschütterungen auf dem so genannten westlichen Balkan kommen kann. Die von gewaltsamen Ausschreitungen begleiteten Demonstrationen am vergangenen Donnerstag in Belgrad scheinen die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Allerdings war es, wie stets und überall bei solchen Gelegenheiten, nur eine kleine Minderheit von Randalieren, die aus der Masse der friedlichen Demonstranten ausscherten. Es mag sein, dass sich ähnliche Bilder in den kommenden Wochen wiederholen, doch entscheidender ist die Frage nach den langfristigen diplomatischen und politischen Folgen. Man denke also einige Jahre voraus und lege ein optimistisches Szenario zugrunde: Serbien und das Kosovo sind gefestigte Demokratien mit funktionierenden Marktwirtschaften, die fast alle Kopenhagener Kriterien erfüllen. Beide Staaten haben den Kandidatenstatus zum EU-Beitritt erreicht und bei den Verhandlungen gute Fortschritte erzielt. Die EU-Staaten wollen, schon aus symbolischen Gründen, beide Anwärter zusammen mit Bosnien-Herzegowina im Jahr 2014, ein Jahrhundert nach den Schüssen von Sarajevo, in ihre Gemeinschaft aufnehmen. Doch eine Frage ist ungelöst: Sowohl Serbien als auch Bosnien-Herzegowina erkennen den dritten zur Aufnahme anstehenden Staat, das Kosovo, nicht als solchen an. Wie kann ein Staat Mitglied werden, der ein anderes Mitglied nicht anerkennt und keinerlei diplomatische Beziehungen zu ihm unterhält? Manche werden sich die Querelen zwischen der Türkei und Zypern erinnert fühlen. Noch bleibt Zeit, um nach einer Lösung zu suchen.