HESSEN
Ministerpräsident Koch bleibt geschäftsführend im Amt. Eventuell auch bis zum Ende der Legislaturperiode
Wenn sich am 5. April der hessische Landtag konstituiert, beginnt für die Parlamentarier eine Legislaturperiode voller Unwägbarkeiten. Nach wochenlangen vergeblichen Sondierungsversuchen gibt es vorerst keine Aussicht auf eine stabile Mehrheit für die Wahl eines Regierungschefs oder einer Regierungschefin. Ministerpräsident Roland Koch und sein CDU-Kabinett müssen, nachdem sie ihren Rücktritt erklärt haben, die laufenden Geschäfte weiterführen, bis der Landtag einer neuen Landesregierung das Vertrauen ausspricht. Was in der hessischen Landesverfassung als Lösung für eine kurze Übergangsphase gedacht und normalerweise eine reine Formalie ist, könnte sich dieses Mal zum Dauerzustand entwickeln.
Denn anders als andere Landesverfassungen sieht, die hessische keinen Ausweg für die Ministerpräsidentenwahl über ein herabgesetztes Stimmenquorum bis hin zur relativen Mehrheit oder die Auflösung des Landtags nach einer bestimmten Frist vor, wie Verfassungsrechtler Erhard Denninger betont. Theoretisch kann eine geschäftsführende Landesregierung in Hessen während einer gesamten Legislaturperiode amtieren.
Die Juristen aller Parteien loten in diesen Tagen aus, was unter diesen Bedingungen überhaupt möglich ist. Klar ist, dass es für Koch und sein Kabinett nach dem 5. April kein Entkommen mehr gibt. "Im Führungsteam kann niemand mehr ausgetauscht oder entlassen werden", erklärt Paul Leo Giani, Richter am hessischen Staatsgerichtshof. "Hiermit fällt für den Ministerpräsidenten ein wesentliches Disziplinierungs-instrument weg." Ebenso wenig ist es dem Landtag möglich, den Rücktritt des Ministerpräsidenten oder eines Kabinettmitglieds herbeizuführen, da bereits die gesamte Regierung zurückgetreten ist.
Über die Befugnisse, die ein solch "versteinertes Kabinett" hat, gehen die Interpretationen auseinander. Eine Übergangsregierung, die die Geschäfte weiterführt, ist zwar keine hessische Besonderheit. Aber als einzige spricht die hessische Verfassung nach Angaben des Justiziars der Staatskanzlei, Herbert Günther, in ihrem Artikel 113 von "laufenden Geschäften", eine Wortwahl, die der hessische Staatsgerichtshofs im Jahr 1984 als Einschränkung der Befugnisse auslegte - für Giani eine auch heute noch verbindliche Auslegung.
Laut Günther deutet die Entstehungsgeschichte von Artikel 113 jedoch darauf hin, dass der Begriff "laufend" keine einschränkende Bedeutung hat. Regierungskreise gehen deswegen davon aus, dass eine geschäftsführende Regierung die gleichen Befugnisse hat wie eine "Vollregierung". Sie ist allerdings laut Denninger an Gesetze "aus der Mitte des Landtags heraus" gebunden und muss diese umsetzen, egal mit welcher Mehrheit sie verabschiedet werden.
Wenn also SPD und Grüne wie geplant am 5. April ihren Gesetzentwurf zur Abschaffung der Studiengebühren auf den Weg bringen und möglicherweise mit Hilfe der Linksfraktion bis zum Sommer verabschieden, könnte Kochs Regierung zwar Einspruch einlegen. Wird dieser aber mit mehr als der Hälfte der Stimmen vom Landtag abgelehnt, ist das Gesetz verabschiedet.
Soweit die Theorie. Doch erst die Praxis dürfte zeigen, ob es realistisch ist, einen "Politikwechsel aus dem Parlament heraus" zu gestalten, wie es die SPD-Vorsitzende Andrea Ypsilanti ankündigt. Denn viele politische Initiativen können nur als Anträge eingebracht werden. Die aber haben einen eher empfehlenden als verbindlichen Charakter. Konstruktivität fordert Ypsilanti deswegen von Roland Koch. Der Ministerpräsident versteht seine geschäftsführende Landesregierung als "loyalen Partner des Parlaments". Doch alle Beteiligten wissen, dass das Gestalten und Moderieren von Politik nun äußerst langwierig und kompliziert werden kann.
"Man ist aufeinander angewiesen", sagt Giani. Der 65-jährige Jurist spricht aus Erfahrung. Als Ministerpräsident Holger Börner (SPD) von Dezember 1982 bis Juni 1984 geschäftsführend im Amt bleiben musste bis die Grünen ihn schließlich zum Regierungschef mit wählten und seine Minderheitenregierung tolerierten, war Giani Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion. In einer solchen Situation könne man sich nicht mehr auf die gewohnte, eingespielte Staatspraxis verlassen, so Börners späterer Staatskanzleichef. "Es müssen neue, phantasievolle Instrumente gefunden werden, um Politik gestalten zu können."
Das gesamte Jahr 1983 mussten Börner und sein Minderheitskabinett mit einem Nothaushalt regieren, den Artikel 140 der hessischen Verfassung für den Fall vorsieht, dass die Verabschiedung eines neuen Haushalts scheitert. Dieser Artikel, so Justiziar Günther, lege die zulässigen Leistungen fest, die unter einem Nothaushalt erbracht werden dürfen. Auch wenn es unterschiedliche Auffassungen gibt, welche Leistungen genau darunter fallen, sind sich die Fachleute über eines einig: Neue Projekte auf den Weg zu bringen, ist unter diesen Bedingungen äußerst schwierig.