Im Winter 2001/02 konnte man nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA-Untersuchung einen überraschenden, parteiübergreifenden bildungspolitischen Diskurs feststellen: Von Rita Süssmuth (CDU) bis Joschka Fischer (Grüne) wurde die Debatte um die notwendige Bildungsreform in Deutschland durch den Gedanken bereichert, dass man vom Schulmodell der französischen Nachbarn unter verschiedenen Gesichtspunkten lernen könne: hinsichtlich seiner Struktur, die den Vorschulbereich formell in das Bildungssystem integriert, sowie seiner Organisationsform als Ganztagsschule. 1
Tatsächlich unterscheidet sich das französische Bildungssystem gerade im Schulbereich in wichtigen Punkten von dem in Deutschland. Im Unterschied zur deutschen ist die französische Schule durch konsequent verstandene weltanschauliche Neutralität (école laïque) gekennzeichnet; ferner durch ein voll ausgebautes, mit der Grundschule verzahntes Vorschulwesen, das fast die Gesamtheit der Drei- bis Sechsjährigen erfasst, eine gemeinsame (also gesamtschulartige) Sekundarstufe I für alle Schüler (collège unique), eine hohe Abiturientenquote (knapp 70 Prozent eines Altersjahrgangs erreichen das Niveau der Abitursklasse, darunter allerdings knapp die Hälfte über eine Doppelqualifikation, nämlich eine gehobene berufliche Qualifikation und die allgemeine Hochschulreife) sowie durch die Organisationsform des Unterrichts als Ganztagsschule.
Von diesen Besonderheiten sollen im Folgenden im Sinne der Eingangsbemerkung neben der besonderen Form des Ganztagsunterrichts in struktureller Hinsicht vor allem der Vorschulbereich und die Grundschule, und zwar vor allem im Hinblick auf ihre Verknüpfung miteinander, genauer untersucht werden. 2
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Frankreich die letzten Restbestände der gymnasialen Vorklassen - die vorher mit den lycées (Gymnasien) ein eigenes, in sich geschlossenes, elitäres Schulsystem für das wohlhabende Bürgertum gebildet hatten - abgeschafft. Dadurch wurde die Grund- oder Primarschule (école primaire élémentaire) zur gemeinsamen Schule für alle Kinder. Man kann dies als erstes Ergebnis der Verwirklichung des Gleichheitsprinzips in der Schulpolitik ansehen, das seit der Französischen Revolution propagiert wurde, sich aber aus verschiedenen Gründen bis dahin nicht verwirklichen ließ. Der nächste bildungspolitische Schritt zur Chancengleichheit bestand darin, dass die Grundschule seit 1975 auf eine einheitliche, vierjährige Sekundarstufe I für (fast) alle Schüler vorbereitet.
Die fünfjährige Grundschule markiert formell den Beginn der Schulpflicht, die wie in Deutschland in der Regel mit dem vollendeten 6. Lebensjahr einsetzt. Allerdings wird im Vergleich zu Deutschland eine frühere Einschulung vergleichsweise häufiger praktiziert. Das ist vor allem der ausgebauten Vorschule zu verdanken. Die französische Grundschule schließt nämlich an die zwar freiwillige, aber von nahezu allen drei- bis sechsjährigen Kindern besuchte Vorschuleinrichtung (école maternelle) an, die im Gegensatz zu Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in das Schulsystem integriert ist und der zentralen staatlichen Schulverwaltung untersteht. Damit ist sie wie die Pflichtschule ein flächendeckendes und unentgeltliches Angebot des Staates und unterscheidet sich deutlich vom deutschen Kindergarten, der zwar öffentlich subventioniert, aber unter Kostenbeteiligung der Eltern von freien Trägern organisiert wird.
Zudem hat die Vorschule, wie die Bezeichnung école maternelle suggeriert, neben allgemeinen Aufgaben frühkindlicher Sozialisation im engeren Sinn die Funktion, eine erste Einführung in die Kulturtechniken zu vermitteln. Auch für die Vorschule gibt es Lehrpläne wie für alle Schultypen. Als äußeres Zeichen der Integration in das Funktionssystem Schule werden deshalb schon die Dreijährigen als "Schüler" (élèves) angesprochen. Die Erzieher und Erzieherinnen im Vorschulbereich (es gibt auch männliche Vertreter) haben den gleichen Status und eine gleichartige Ausbildung wie die Grundschullehrer(innen) und tragen deshalb seit den 1980er Jahren wie diese auch den prestigereichen Titel professeur, genau wie die Lehrkräfte an den weiterführenden Schulen und an den Universitäten. Der Beginn der staatlich finanzierten und organisierten vorschulischen Erziehung wurde seit den 1980er Jahren schrittweise auf das 2. Lebensjahr vorverlegt. Heute sind bereits 40 Prozent der unter Dreijährigen "Schüler" der école maternelle. 3
Die Verzahnung von Vor- und Grundschule wurde in den 1990er Jahren weiter verstärkt. Das letzte Jahr der Vorschule und die beiden ersten Jahre der Grundschule wurden "schulstufenübergreifend" zu einer pädagogischen Einheit "grundlegenden Lernens" zusammengefasst. Durch diese Gliederung soll unter Einbeziehung beider Institutionen eine Flexibilisierung der Lernzeiten erreicht werden, die es dem einzelnen Schüler erlaubt, den Stoff von drei Schuljahren nach seinem eigenen Lernrhythmus entweder langsamer (in vier Jahren) oder aber schneller (in zwei Jahren) zu absolvieren. Diese Flexibilisierung erschien den Verantwortlichen besonders notwendig, da die Unterrichtsmethodik der französischen Grundschule lange Zeit als besonders konservativ galt. Neben der zentralen Vermittlung der Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) ist ihr didaktisches Prinzip von Anfang an die Erschließung der Welt in einer induktiv-intuitiven Weise. Diese geht von den wahrnehmbaren Objekten aus, die durch Beobachtung, Vergleich und Verallgemeinerung auf ihre Eigenschaften untersucht werden. 4 Die aus der Reformpädagogischen Bewegung kommenden, so genannten "aktivierenden Methoden" tauchen in den offiziellen Richtlinien seit den 1960er Jahren auf, die tatsächliche Implementierung von Elementen der Reformpädagogik - als französischer Vertreter steht hier vor allem Celestin Freinet (1896 - 1966) - brauchte jedoch relativ lange, um auch die öffentlichen Schulen zu erreichen. Ihre Grundidee im Bereich der Grundschule ist die Öffnung des Unterrichts zur natürlichen und sozialen Umwelt, die das Interesse der Schüler und damit Lernmotivation wecken sollen. 5
Aus der Sicht kritischer Reformpädagogik hat die französische Grundschule den objektiven Makel einer hohen Sitzenbleiberquote: Im Jahr 2000 betrug sie 19,5 Prozent, bei allerdings konstant rückläufiger Tendenz. 6 Das deutet darauf hin, dass das Problem einer zu starken Intellektualisierung der Schuleingangsphase erkannt ist. Mit der Flexibilisierung der Eingangsphase an der Schnittstelle zwischen Vorschule und Grundschule, einer Erneuerung der Unterrichtsmethoden durch die "Öffnung" von Unterricht (d.h. das Abgehen vom Frontalunterricht) sowie die Flexibilisierung des Stundenplans je nach örtlichen Verhältnissen mit Minimal- und Maximalstundenanzahl schienen entsprechende "Heilmittel" gefunden, die vor allem zur Auflockerung der starren Zeitvorgaben dienen sollten, die als wichtigste Ursachen für frühes Schulversagen ausgemacht worden waren. Die Innovationen wurden aber nur zögerlich implementiert. Empirische Erhebungen zur Unterrichtsmethodik zeigten einige Jahre später zwar einen Innovationsschub in der Selbstwahrnehmung der Lehrenden, in Zufallsstichproben zeigte sich aber weiter die Dominanz des Frontalunterrichts. 7 Als weitere diagnostische Mittel zur Vorbeugung gegen Schulversagen wurden an den Gelenkstellen des Schulsystems (in der Eingangsstufe der Grundschule und beim Übergang zur weiterführenden Pflichtschule) "Lernstandserhebungen" vor allem in den Kulturtechniken eingeführt, deren ernüchternde Ergebnisse Frankreich vor einem zu großen PISA-Schock bewahrten. 8
Die französische Schule ist mit der Beschreibung ihrer Strukturen bei weitem nicht erschöpfend erklärt. Sowohl die Vor- als auch die Grundschule (und darüber hinaus alle anderen Schultypen) fallen aus deutscher Sicht dadurch auf, dass sie Unterricht erteilen, der über Vor- und Nachmittag verteilt ist. Gerade für die deutsche Reformdiskussion ist es diese Organisationsform als Ganztagsschule, die im Sinne einer "guten Praxis" auch von bildungspolitischem Interesse zu sein scheint.
Wenn man allerdings von "französischer Ganztagsschule" spricht, ist dieser Ausdruck nur im Ausland verständlich. Die meisten deutschen Beiträge zu diesem Thema 9 beginnen zu Recht mit der Feststellung, dass der Begriff "Ganztagsschule" in der französischen Sprache nicht existiert. Versucht man eine Lehnübersetzung, etwa école à plein temps - in Analogie zum beruflichen Bildungsbereich ("Vollzeitschule") -, so versteht diesen Begriff in unserem Kontext kein Franzose. Das liegt nicht etwa daran, dass es das Phänomen nicht gibt; im Gegenteil, Schule wird in Frankreich von alters her wie selbstverständlich als Veranstaltung verstanden, die sich über den ganzen Tag erstreckt, und ist per definitionem Ganztagsschule. Eine "Vormittagsschule" - die in Deutschland im Übrigen ja ohne Mittagspause faktisch bis 14 Uhr nachmittags dauert - ist in Frankreich undenkbar.
Im französischen Kontext geht es im engeren Sinne um Ganztagsschule, nicht um eine para- oder perischulische (sozialpädagogische) Ganztagsbetreuung, obgleich es die zusätzlich auch gibt. Das macht die Besonderheit der französischen Situation aus, die viele wohl meinende deutsche Pädagogen dazu veranlassen könnte, mit einem pauschalen "Unvergleichbarkeitstopos" zu erklären, dass man hier auf keinen Fall ein Beispiel für best practice finden könne, denn "bei uns" sei so etwas schon aus schulstrukturellen Gründen nicht realisierbar. Ziel dieser Ausführungen soll es gerade sein, angesichts eines deutschen, primär sozialpädagogisch geprägten Begriffs der "offenen Ganztagsschule" als freies Nachmittagsangebot für die Leistungsschwächeren zu zeigen, dass in Frankreich schon im Ansatz offensichtlich eine andere, ebenso erwägenswerte, erweiterte Definition von Schule anzutreffen ist, die sich von unserem engeren Verständnis unterscheidet. Das bedeutet: Der Leser soll, wie in der Vergleichenden Erziehungswissenschaft gerne gesagt wird, eine Kontingenzerfahrung erleben, d.h. die Erfahrung, dass das, was (in seinem Land) so ist, wie es ist, auch ganz anders sein könnte (wie die fremde Erfahrung zeigt).
Der Ursprung der französischen Schulorganisation im Hinblick auf den Ganztagsunterricht liegt am Ende des 19. Jahrhunderts in der radikalen Emanzipation der sich konstituierenden "laizistischen" Schule von der Vormundschaft der katholischen Kirche. Die "Befreiung" aus der Vormundschaft der Kirche bedeutete vor allem, dass der Religionsunterricht aus der Schule verbannt wurde, um den Einfluss des oft "republikfeindlich" eingestellten Klerus von der Schule fernzuhalten.
Daraus ergaben sich zwei schulorganisatorische Konsequenzen, die noch heute spürbar sind. Es ist zum einen die Organisation der Schule als Ganztagsschule: Der quasi-religiöse Eifer der republikanischen Schulreformer sah in den Primarschullehrern nichts weniger als prêtres laïcs (weltliche Priester) und wollte deshalb einen möglichst umfassenden Einfluss auf die junge, formbare "Kinderseele" im Sinne einer Nationalerziehung (Éducation Nationale) - die Einheit der Nation im Geiste der Republik - ausüben. Zum anderen aber wurde, gewissermaßen als Kompensationsangebot an die Kirche für die Verbannung des Religionsunterrichts, für die Primarstufe ein unterrichtsfreier Tag, für die Sekundarschule ein unterrichtsfreier Vormittag mitten in der Woche eingeführt. Damit sollte den Eltern, die es wünschten, die Möglichkeit gegeben werden, ihr Kind in den kirchlichen Unterricht außerhalb der Schule, in den Räumen der Kirche zu schicken. Um die vorgesehene Wochenstundenzahl trotz des schulfreien Tags mitten in der Woche zu halten, blieb der Schulverwaltung keine andere Wahl, als den Unterricht in Ganztagsform in den verbleibenden Tagen einzuführen. Und noch ein Umstand legte den Ganztagsunterricht auch unter quantitativen Gesichtspunkten nahe: Im agrarisch geprägten Flächenstaat galt es, den Unwillen der bäuerlichen Bevölkerung gegen die schrittweise durchgesetzte Schulpflicht dadurch zu besänftigen, dass sozusagen als Kompromiss sehr lange Sommerferien eingeführt wurden (fast zehn Wochen), damit die Kinder in der Erntezeit helfen konnten. Die Komprimierung der Jahresarbeitszeit kam ohne die Verlängerung des Unterrichtstages über den Vormittag hinaus gar nicht aus.
Der Schultag der Kinder war auf diese Weise am Arbeitstag der Erwachsenen orientiert. Das hatte deutliche Rückwirkungen auf das gesellschaftliche Leben. Tatsächlich hat Schule in Frankreich einen ungleich stärkeren Stellenwert im gesellschaftlichen Leben als in Deutschland. Das sieht man nicht nur darin, dass die rentrée, der Wiederbeginn der Schule nach der Sommerpause, zugleich eine Zäsur im gesellschaftlichen Leben ist - so gibt es die rentrée littéraire, wo die neuen Bücher vorgestellt werden, oder die rentrée politique, wo die politischen Kontroversen nach der Sommerpause wieder aufgenommen werden -, sondern auch in Phänomenen wie dem höheren Stellenwert der Schule in der Publizistik, messbar etwa in den hohen Auflagen der Zeitschrift "Le Monde de l'Education" oder der Anteilnahme auch der Tagespresse an den Inhalten der Abiturprüfung. 10
Da das Prinzip der Ganztagsschule bis heute für die gesamte Schulzeit vom Vorschulbereich bis zu den Postabitursklassen gilt, bedeutet das, dass der Staat quasi als Nebeneffekt der ursprünglich beabsichtigten politischen Sozialisationsfunktion für Unterricht und Kinderbetreuung einen zuverlässigen Rahmen vorgibt, auf den die Familien bei der Planung ihres Arbeitslebens bauen können. Die staatliche Schulorganisation wirkt sich sehr stark familienpolitisch aus. Wie sieht es um die zeitliche Struktur dieses Ganztagsangebotes aus? 11
Auf der Ebene der Vorschule haben die angebotenen organisatorischen Modelle mit ihren Varianten unterschiedlicher Öffnungszeiten in der Regel eine sechsstündige "Schulzeit" gemeinsam, die gleichmäßig auf Vormittag und Nachmittag verteilt ist. Darüber hinaus gibt es in etwa einem Drittel der Vorschuleinrichtungen zusätzliche Betreuungsangebote vor Beginn und nach "Schulschluss". Dieses Zusatzangebot war allerdings in 40 Prozent der recherchierten Fälle kostenpflichtig. Zwei Drittel der Vorschuleinrichtungen bieten einen Mittagstisch an, der kostenpflichtig, wenn auch durch Subventionen verbilligt ist. Um verbreitete deutsche Vorstellungen von der grausamen "Verschulung" der französischen école maternelle und den vermeintlich hoffnungslos überforderten französischen Vorschulkindern zu differenzieren: Unterrichtsähnliche Veranstaltungen mit Ansätzen strukturierten Lernens finden dort nur in den letzten beiden Jahren (also für die Vier- bis Sechsjährigen) im Umfang von etwa zwei Stunden am Tag statt. Die ersten Jahre (und die verbleibende Zeit in den späteren Jahren) sind dem Spiel und (im weitesten Sinn) der Gewöhnung an das Gemeinschaftsleben (im Sinne einer vorschulischen Sozialisation) gewidmet.
Trotz dieser relativen Betreuungsdichte bleiben für den Vorschulbereich - wie für den Rest der Schulzeit - zwei Probleme: der ursprünglich für den Religionsunterricht vorgesehene freie Tag, soweit er nicht auf den Samstag gelegt wurde, und die langen Sommerferien. Das Problem des freien Tages wird von den befragten Eltern pragmatisch gelöst - über kostenpflichtige kommunale Angebote oder private Lösungen, in denen die Oma (falls nicht mehr berufstätig) eine Rolle spielt. Für die Sommerferien, die den Familienurlaub überschreiten, werden bereits für die Zwei- bis Dreijährigen, aber zunehmend auch für die älteren Kinder "Ferienkolonien" eingerichtet, die von privaten und kommunalen Trägern oder anderen gesellschaftlichen Gruppen (z.B. kirchlichen oder laizistischen Verbänden) angeboten werden.
Naturgemäß wird der Unterrichtscharakter der Ganztagsschule mit dem Übergang in die Grundschule - als Teil des Pflichtschulbereichs - wesentlich deutlicher. An den Strukturprinzipien des Schultages ändert sich indes wenig. Der Schultag dauert - mit örtlichen Varianten - von 8 bis 12 und von 14 bis 16 oder 17 Uhr. Für den Primarbereich ist die Gruppierung der Unterrichtsstunden flexibel, die Regel sind jedoch Unterrichtseinheiten von 55 Minuten (die übliche französische Unterrichtsstunde). Eine ähnliche Zeitstruktur gilt auch für die Sekundarstufe I, dem oberen Bereich der Pflichtschule. Zehn Prozent der Unterrichtszeit kann in klassenübergreifenden Projektunterricht "investiert" werden. Es handelt sich also ausdrücklich nicht um klassischen Frontalunterricht.
Ganztagsschule bedeutet nicht nur die quasi selbstverständliche Möglichkeit des Mittagessens in der Schule (unter entsprechender Aufsicht), die von mehr als der Hälfte der Schüler genutzt wird, sie betrifft auch beaufsichtigte Einzelarbeit (étude surveillée) im Anschluss an den Unterricht, die auch der Fertigstellung von Hausaufgaben gewidmet sein kann. Sie impliziert schließlich eine große Anzahl von Arbeitsgemeinschaften (Neigungsgruppen), die als "sozialerzieherische Tätigkeiten" im Foyer Socio-Éducatif (Sozialerzieherisches Zentrum) vor allem, aber nicht nur im verbleibenden Teil der Mittagspause durchgeführt werden. Dazu gehören etwa Theater-AGs, die Herstellung der Schülerzeitung, der UNESCO-Club oder antirassistische Arbeitsgemeinschaften. Als Animateure wirken in der Regel die Lehrkräfte der Schule. Eine Besonderheit sind in diesem Zusammenhang die Sportgruppen, die, zusammengefasst im Nationalen Schul- und Universitätssportverband (Union Nationale des Sports Scolaires et Universitaires), den eigentlich schulfreien Mittwochnachmittag nutzen, aber von den Sportlehrern der Schule geleitet werden. Sie werden stark nachgefragt. Étude surveillée gibt es auch im Anschluss an den Unterricht vor allem für schwächere Schüler (Erledigung von Hausaufgaben, Nacharbeiten des Schulstoffs). Das "Selbststudium" wird entweder von schulischem Personal angeleitet oder aber von der Kommune getragen. Im Kontext des ehrgeizigen politischen Ziels der Steigerung der Abiturientenzahlen kommt diesem Bereich schon früh eine wachsende Bedeutung zu, da hier die Grundlagen für die späteren Chancen gelegt werden, zur Hochschulreife zu kommen. Ohne den vollständigen Abschluss der Pflichtschule (die mittlere Reife) gibt es keine Chancen auf das Abitur.
In die Schule voll integriert ist das CDI (Centre de Documentation et d'Information - Dokumentationszentrum). Das CDI mit seiner räumlichen und sächlichen Ausstattung ist eine entscheidende Stütze, ohne die eine selbständige Arbeit der Schüler im Rahmen der Ganztagsschule nicht möglich wäre. Neben der sächlichen Ausstattung an Büchern, Medien und Lernhilfen gibt es dort eine Fachkraft als Anlauf- und Beratungsstelle, die zum Personal der Schule gehört.
Die französische Schule beschäftigt nicht nur Lehrer, sondern eine breite Palette von pädagogischem Hilfspersonal, welche die Lehrer in ihrer Tätigkeit unterstützen. Durchschnittlich ist mehr als ein Viertel - nach einer Fallstudie 12 genau 28 Prozent - des Personals an einer Schule pädagogisches Hilfspersonal. Die Lehrer sind ausschließlich mit Unterricht betraut (wozu auch die fakultativen Arbeitsgemeinschaften gehören). Die Pausenaufsicht, die Aufsicht beim Mittagessen und in der selbständigen Arbeit übernehmen Surveillants. Der Koordinator dieses pädagogischen Hilfspersonals, der frühere Surveillant Général, trägt inzwischen den pädagogisch korrekten Namen Conseiller Principal d'Education (Haupterziehungsberater). Die Aufsichtsangestellten sind in der Regel Studierende des Lehramts, oft auch solche, die ihr Fachstudium abgeschlossen, aber den Zugangswettbewerb zur Aufnahme in die Referendarausbildung noch nicht geschafft haben. Sie bekommen den gesetzlichen Mindestlohn (derzeit knapp 1000 Euro netto).
Die Notwendigkeit der Stellung von Aufsichtspersonal lässt auch das Ministerium bei der Einführung neuer "Jobtypen" kreativ werden. Neben der Kategorie der Surveillants, heute mit der korrekten Bezeichnung Maitre d'Internat - Surveillant d'Externat (MISE), die 28 Stunden Aufsicht in der Woche führen, wurden 1997 als Maßnahme gegen die Jugendarbeitslosigkeit aide-éducateurs (Erziehungshelfer) ins Leben gerufen, die einen anderen arbeitsrechtlichen Status haben und 35 Stunden arbeiten. Nach dem Auslaufen dieser "Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen" wurde 2003 eine neue Kategorie geschaffen, die Erziehungsassistenten (assistants d'éducation), die mittelfristig die anderen Kategorien ersetzen sollen. Deren arbeitsrechtlicher Status ist umstritten. Nach der Darstellung des Ministeriums sollen die Verträge aber so flexibel gehandhabt werden können, dass durch die Übernahme von Teilzeitverträgen ein erfolgreiches Weiterstudium möglich ist. Sie sind auch als Begleiter für die Integration behinderter Schüler in Regelklassen vorgesehen.
Probleme, die nicht zu übersehen sind, zeigt die Schulorganisation in Frankreich allerdings auch. So kann der lange Schultag gerade für die kleineren Kinder sehr anstrengend sein. Christoph Kodron 13 hat in seiner Studie nachgerechnet, dass manche Kinder im Vorschulbereich unter Einschluss der zusätzlichen Betreuungsangebote mehr als neun Stunden "in der Schule" sind. In der Grundschule wurde seit den 1970er Jahren versucht, der intellektuellen Ermüdung der Kinder dadurch zu begegnen, dass in die Nachmittagsstunden weniger abstrakte Fächer (disciplines d'eveil, d.h. Sachunterricht bzw. Milieustudien 14 ) und sportliche bzw. musische Aktivitäten gelegt wurden. Auch wenn diese reflektiertere Stundenplangestaltung vielleicht nicht auf der ganzen Linie zu überzeugen vermag, sei daran erinnert, dass auch die deutsche Schule das Problem der unproduktiven "6. Stunde" kennt.
Die Probleme, die durch die vielleicht archaisch anmutenden Gepflogenheiten des freien Mittwochs (im Primarbereich) bzw. des freien Mittwochnachmittags (im Sekundarbereich) entstehen, die allerdings heute auch zunehmend von Koranschulen genutzt werden, bereiten vor allem den berufstätigen Müttern oder den Alleinerziehenden besonderes Kopfzerbrechen. Man versucht diese Probleme "familienfreundlicher" dadurch zu lösen, dass man durch einen Beschluss der Schulkonferenz den freien Tag auf den Samstag legt. Die Entscheidung darüber liegt also beim Mitbestimmungsorgan der Schule. Wo allerdings, oft aufgrund kirchlichen Widerstands, neben dem freien Samstag auch der Mittwoch zusätzlich frei bleibt, also faktisch eine Viertagewoche entsteht, wird nicht nur das Betreuungsproblem nicht gelöst, es entsteht auch ein curriculares, da der Stoff auf einen Schultag weniger in der Woche konzentriert werden muss. Hier hilft die neuerdings erfolgte leichte Kürzung der Ferien nur wenig.
Interessant ist allerdings, dass die zahlreichen pädagogischen Überlegungen zur Reform der rythmes scolaires (also des Unterrichtsrhythmus) lediglich die interne Stundenplangestaltung zum Gegenstand haben, das Grundprinzip der Ganztagsschule aber nicht berühren. Es mag deutsche Beobachter verblüffen, dass diese augenscheinlich "stressige" französische Schulorganisation von den Schülern in der Regel nicht negativ erlebt wird. In einer bemerkenswerten empirischen Untersuchung zur Schulzufriedenheit bei deutschen und bei französischen Schulkindern 15 stellen die Autoren fest, dass sich die französischen Kinder wesentlich zufriedener mit ihrer ständig präsenten, anstrengenden Schule zeigten als die deutschen mit ihrer lockereren Schulorganisation.
Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Skizze ziehen? Im wertenden Vergleich zu Deutschland ist die Existenz eines flächendeckenden Vorschulbereiches für quasi alle Drei- bis Sechsjährigen und 40 Prozent der Zweijährigen als unentgeltliches Angebot des Staates etwas, von dem deutsche Mütter, wenn sie womöglich noch alleinerziehend sind, nur träumen können. Zum zweiten gibt die Organisationsform als Ganztagsbetreuung, die über die ganze Schulzeit aufrechterhalten wird, diesem Angebot erst die richtige familien- und sozialpolitische Dimension. Durch die Ganztagsschule setzt der Staat einen verlässlichen sozialen Rahmen für die Gestaltung des Arbeitslebens, ohne die Familien zu vernachlässigen. Durch beide bildungspolitischen Maßnahmen, den Ausbau des flächendeckenden und kostenfreien Vorschulbereichs und die schulorganisatorische Weiterführung in der Ganztagsschule, gelingt es Frankreich, bei einer hohen Frauenerwerbsquote die höchste Geburtenrate in der EU zu haben. Dies widerlegt alle Thesen, die behaupten, dass die sinkenden Geburtenraten in Europa durch die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen verursacht würden.
Ein Blick auf die Statistik untermauert diese Feststellung. Die französische Arbeitsstatistik gibt für 2004 an, dass 81 Prozent der Frauen in der Altersgruppe der 25- bis 49-Jährigen beruflich aktiv waren. 16 Trotz dieser hohen Beschäftigungsrate lag die durchschnittliche Gesamtfruchtbarkeitsrate in Frankreich nach eurostat im Jahr 2006 bei 2,0, das ist der höchste Wert in der EU, nur Island hatte in Europa mit 2,08 eine höhere Rate. Damit haben die Französinnen die bis dahin führenden Irinnen überholt. Zum Vergleich: Deutschland hatte 2006 eine Gesamtfruchtbarkeitsrate von 1,32, Polen von 1,27, Schweden von 1,85. 17Der EU-Durchschnitt betrug 2004 1,5. 18 Man kann aus diesen Indikatoren schließen, dass es Frankreich gelingt, durch Bildungspolitik erfolgreiche familienpolitische Impulse zu setzen. Das führt uns zur ersten These.
These I: Das französische Beispiel zeigt, wie man durch Bildungspolitik zugleich Familienpolitik machen kann.
Das französische Beispiel zeigt aber noch mehr. Schule, so resümiert Alix 19 seine Darstellung, ist nicht nur Unterricht (also ein zu bewältigendes Curriculum), sondern auch "viel gemeinsam verbrachte Zeit". Im Funktionenmodell von Schule wird dies gewöhnlich als Sozialisationsfunktion bezeichnet. Dies lässt sich in These II zusammenfassen.
These II: Schule ist nicht nur Unterricht (Curriculum), sondern auch Gelegenheit zum gemeinsamen Arbeiten und Spielen (Sozialisation).
Das ist eine weitere zentrale Botschaft der französischen Ganztagsschule, die zwar nicht neu ist, aber leicht vergessen wird. Durch die Notwendigkeit und die Chance, diese gemeinsame Zeit zu füllen, kommt hier auch das, was wir in Deutschland die sozialpädagogische Dimension nennen, zum Tragen, allerdings mit einer anderen personalen Rollenverteilung. Damit verbunden ist eine Ausdifferenzierung der pädagogischen Funktionen, die über die bloße Aufsicht zur Aufrechterhaltung der Disziplin weit hinausgeht. In der französischen Ganztagsschule und insbesondere der Vorschule wurde diese erzieherische Funktion als Aufgabe des Staates als des Repräsentanten der Gesamtgesellschaft erkannt und zu realisieren versucht. Der relative Erfolg der Realisierung dieser gesamtstaatlichen erzieherischen Aufgabe in der nationalen und sozialen Integration der Jugend und in der Egalisierung gesellschaftlicher Ungleichheit - relativer Erfolg zumindest gemessen an dem bei PISA dokumentierten erschreckenden deutschen Misserfolg auf diesem Gebiet - leitet uns zu der abschließenden, vielleicht gewagtes praktisches Handeln implizierenden These.
These III: Der öffentlich finanzierte Ausbau von Ganztagseinrichtungen leistet eine wirksamere Hilfe für die positive Entwicklung der Kinder als die Erhöhung des individuellen Kindergelds, dessen sachgerechte Verwendung nicht gewährleistet ist.
Damit wird der Bogen zur ersten These geschlagen: Bildungspolitik kann wirksame Familienpolitik sein.
1 Noch zwei Jahre
zuvor (1999) wurde in einem bildungspolitischen Workshop eines
deutschen Kultusministeriums der Hinweis des Verfassers auf das
mögliche Vorbild Frankreich in dieser Beziehung mit Verweis
auf die ganz anderen Bedingungen in Deutschland irritiert
abgetan.
2 Vgl. zur Gesamtheit der
Bildungsstrukturen Wolfgang Hörner, Frankreich, in: Hans
Döbert/Wolfgang Hörner/Botho von Kopp/Wolfgang Mitter
(Hrsg.), Die Bildungssysteme Europas, Baltmannsweiler 20042, S. 155
- 175, sowie ders., France, in: ders./Hans Döbert/Botho von
Kopp/Wolfgang Mitter (eds.), The Education Systems of Europe,
Dordrecht 2007, S. 263 - 283.
3 Vgl. W. Hörner 2007 (Anm. 2), S.
272.
4 Vgl. Antoine Prost, Histoire de
l'enseignement en France (1800 - 1967), Paris 1968, S. 278.
5 Vgl. Louis Legrand, Une méthode
active pour l'école d'aujourd'hui, Neuchâtel 1971,
sowie Jean-Pierre Serri, Pédagogie de l'école
élémentaire: Les activités d'éveil,
Paris 1977.
6 Vgl. W. Hörner 2007 (Anm. 2), S.
273.
7 Vgl. Wolfgang Hörner, Grundschule
in Europa, in: Wolfgang Einsiedler/Margarete Götz/Hartmut
Hacker/Joachim Kahlert/Rudolf W. Keck/Uwe Sandfuchs (Hrsg.),
Handbuch Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik, Bad
Heilbrunn 20052, S. 43.
8 Vgl. Wolfgang Hörner, Die
französische Schule nach PISA, in: PädForum: Unterrichten
- Erziehen, 31 (2003) 3, S. 143 - 145, sowie ders., Neue Formen der
Leistungsmessung als bildungspolitische Innovationsstrategie. Das
Beispiel Frankreich, in: Hans Döbert/ Hans-Werner Fuchs
(Hrsg.), Leistungsmessungen und Innovationsstrategien in
Schulsystemen. Ein internationaler Vergleich, Münster 2005, S.
149 - 155.
9 So z.B. Christian Alix, "Schule und
Ganztagsschule sind identisch". Frankreichs Schulsystem in der
Praxis - ein Blick nach Marseille, in: Bildung und Innovation
(Onlinemagazin) vom 14.8. 2003, www.bildungsser
ver.de/innovationsportal/bildungplus.html?artid=217 & (20.4.
2008), oder Mechthild Veil, Ganztagsschule mit Tradition:
Frankreich, in: APuZ, (2002) 41, S. 29 - 37.
10 Vgl. W. Hörner 2003 (Anm.
8).
11 Vgl. zum folgenden Christoph Kodron,
Zeit für Schule: Frankreich, in: Hans-Günther
Hesse/ders., Zeit für Schule: Spanien Frankreich, Weinheim
1991, S. 16ff.
12 Vgl. Chr. Alix (Anm. 9).
13 Vgl. Chr. Kodron (Anm. 11).
14 Vgl. J. P. Serri (Anm. 5).
15 Vgl. Kurt Czerwenka, Schulsystem,
Selektion und Schulzufriedenheit in Frankreich, in: Zeitschrift
für Pädagogik, 36 (1990), S. 849 - 875.
16 Vgl. INSEE/Institut National de la
Statistique et des Études Économiques (Hrsg.),
Données sociales. La société français,
Paris 2006, S. 225.
17 http://epp. eurostat. ec.
europa.eu/portal/page?_ pageid=1996. 3. 140985&_dad =
portal&_schema = PORTAL&screen = detailref&language =
de&product = Yearlies_new_population&root = Yearlies_new_
population/C/C1/C12/ cab12048 (20. 4. 2008).
18 Nach INSEE (Anm. 16), S. 17.
19 Chr. Alix (Anm. 9).