Die religiöse Vielfalt gehört zu den Hauptmerkmalen der Gesellschaften im Vorderen Orient. Kein Wunder, denn in dieser Region entstanden die drei monotheistischen Religionen: das Judentum, das Christentum und der Islam. Und hier wurde von Anfang an mal argumentativ, mal temperamentvoll und oft sehr heftig um die Auslegung der heiligen Schriften gestritten. Die geopolitische Lage des Libanons als Schwelle zu Syrien machte ihn zur ersten Station der Heere aller Herrscherländer, die ihre Religionen und Kulturen ins Land mitbrachten. Gleichzeitig baten seine schwer zu überwindenden Berge vielen verfolgten Minoritäten und Häretikern sicheres Asyl und ermöglichten ihnen, ihr religiöses Leben weit weg von den jeweiligen Orthodoxien und von der Zentralmacht frei zu gestalten. Hinter dem religiösem Diskurs kamen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung auch verdeckt politische und nationale Interessen zum Ausdruck, was zu Schismen innerhalb der jeweiligen Religionen und damit zur Entstehung der verschiedenen Religionsgemeinschaften geführt hat. Dies lag zum größten Teil daran, dass die Religionen immer auch zur Durchsetzung politischer Interessen missbraucht wurden. Dies gilt für alle Religionen und insbesondere für den Islam, der von vornherein keine Trennung zwischen irdischem und himmlischem Reich macht.
Hinsichtlich seiner vielfältigen religiösen und konfessionellen Struktur unterscheidet sich der Libanon im Großen und Ganzen nicht wesentlich von den benachbarten arabischen Ländern. Seine Besonderheit besteht jedoch darin, dass zum einen 18 christliche und islamische Konfessionen wie ein Mosaik auf einer sehr kleinen Fläche von 10 452 km(2) zusammenleben. Zum anderen nehmen die Religionsgemeinschaften als solche im libanesischen Staat eine politische und gesellschaftliche Rolle ein. Nach Artikel 24 der libanesischen Verfassung werden die 128 Sitze im libanesischen Parlament gleichermaßen zwischen christlichen und muslimischen Konfessionen nach einem Proporzsystem aufgeteilt. Die höchsten Staatsämter gehören jedoch den Vertretern der größten Religionsgemeinschaften. Der Staatspräsident muss Maronit, der Parlamentspräsident Schiit und der Regierungschef Sunnit sein. Dieses System wird deshalb auf Arabisch Al Taifia genannt - zu Deutsch Konfessionalismus: Die Macht geht nicht etwa vom Volk aus, sondern von den Konfessionen, die ein Bindeglied zwischen ihren Angehörigen und dem Staat bilden. Dazu kommt die Tatsache, dass die Religionsgemeinschaften auch im ganzen Staatsapparat vertreten sind. Eine Trennung von Religion und Politik existiert folglich im Libanon nicht. Laizistische Parteien oder Personen können nicht als solche an den Parlamentswahlen oder an der Regierung teilnehmen. Es gibt im Libanon kein einheitliches Familien- und Erbrecht. Insbesondere existiert keine Zivilehe, was ein Hindernis für gemischtkonfessionelle Ehen darstellt. Jede Konfession hat ihre eigenen Gesetze und Regelungen und unterhält zum Teil Bildungsinstitutionen und soziale Einrichtungen. All diese Faktoren tragen dazu bei, die Religionsgemeinschaften zu Staaten im Staat zu machen.
Die Erhebung des konfessionellen Systems zum unveränderlichen Wesenszug des libanesischen Staates widerspricht dem demokratischen Prinzip, das die Gleichheit der Bürger beinhaltet. Auch werden demographische Veränderungen nicht berücksichtigt. So bekommen die Vertreter der Christen, die gegenwärtig nach Schätzungen ca. 35 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, die Hälfte der Sitze im Parlament. Bekanntlich war das politische System eine der Hauptursachen des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 und der gegenwärtigen politischen Krisen. Der ständige Verteilungskampf zwischen den Vertretern der Konfessionen trägt dazu bei, sie in Einflusssphären regionaler und internationaler Mächte zu verwandeln und eine integrierende Rolle des Staates unmöglich zu machen. Deshalb ist eine Analyse der Rolle der Konfessionen im Libanon notwendig, um den Ursprung, das Wesen, und die Erscheinungsformen der Konflikte zu verstehen. Dieser Beitrag wird sich jedoch auf die Darstellung der Maroniten, Sunniten und Schiiten beschränken, da sie gegenwärtig die Hauptakteure der libanesischen Politik sind. Der Vollständigkeit halber sollen aber alle Konfessionen in der Reihenfolge ihrer geschätzten Zahl (absteigend) im Folgenden aufgelistet werden: Zu den Muslimen zählen Schiiten, Sunniten, Drusen, Alawiten und Ismailiten. Christen sind Maroniten, Griechisch-Orthodoxe, Griechisch-Katholiken, Armenisch-Orthodoxe, Armenisch-Katholiken, Römisch-Katholiken, Protestanten, Syrisch-Orthodoxe, Assyrisch-Chaldäer, Syrisch-Katholiken, Chaldäer und Kopten. Ferner gibt es eine unbekannte kleinere Anzahl von Juden.
Betrachtet man Loyalitätsgrad der Religionsgemeinschaften zum Libanon als Vaterland, so galten bislang die Maroniten als die am meisten patriotische Konfession. Für ihre fast religiöse Bindung an ihre Heimat waren Geographie und Geschichte maßgeblich verantwortlich. Die maronitischen politischen Eliten und Geistlichen waren zudem seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Träger der libanesischen Idee und die Architekten des libanesischen Staates. Benannt nach dem Heiligen Maron, der im 5. Jahrhundert im Orontes-Tal im heutigen libanesischen Nordosten mit einigen Anhängern lebte, etablierten sich die Maroniten seit dem 8. Jahrhundert erst im Kadischa-Tal und später im Herzen der libanesischen Bergregion. Über den Ursprung der maronitischen Lehre herrscht unter den Historikern Uneinigkeit. So wird behauptet, dass die Maroniten sich im 7. Jahrhundert von der Orthodoxie abspalteten und sich unter dem Einfluss des Kaisers Heraklios zum Monotheletismus bekannten. Dieser Lehre zufolge vereinigen sich die menschliche und göttliche Natur Jesus Christus in seinem einzigen gottmenschlichen Willen. Maronitische Historiker lehnen jedoch diese These strikt ab. Sie bekräftigen die Zugehörigkeit der Maroniten zum syrischen Monophysitismus, welcher auch die Natur Christi als ungeteilt göttlich betrachtet und zum ersten Schisma des Christentums führte. Der Monophysitismus brachte die Unabhängigkeitsbestrebungen der syrischen und ägyptischen Christen von Konstantinopel zum Ausdruck und wurde im Jahre 451 vom vierten ökumenischen Konzil als Irrglaube verurteilt.
Es ist nicht möglich, im Rahmen dieses Beitrages die Geschichte der Maroniten im Einzelnen zu behandeln. Jedoch ist es in diesem Zusammenhang wichtig hervorzuheben, dass sich die maronitische Kirche seit den Kreuzzügen mit Rom liierte. Sie wurde 1215 durch die Bulle Qua divinae sapientiae des Papstes Innozenz III. anerkannt. Ihr kirchliches Leben wurde später von der Synode im Jahre 1736 organisiert. Die maronitische Kirche behielt jedoch eine gewisse Autonomie innerhalb der katholischen Weltkirche. An ihrer Spitze im Libanon und bei der maronitischen Diaspora steht ein Patriarch mit Sitz in Bkerke, nördlich von Beirut. Die Verbindung mit der westlichen Christenheit legte den Grundstein für die spätere Entwicklung der Maroniten, die trotz der islamischen Herrschaft seit dem 7. Jahrhundert in der libanesischen Bergregion ihre Religion ungestört ausübten. Während der türkischen Herrschaft standen die katholischen Minoritäten besonders nach dem Abkommen von 1535 zwischen dem französischen König Franz. I. und Sultan Suleiman unter französischem Schutz. Dies führte zur allmählichen Entwicklung kultureller, politischer und wirtschaftlicher Beziehungen der Maroniten zu Frankreich.
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts lebten die Maroniten unter der feudalen Herrschaft der drusischen Fürsten in dem libanesischen Emirat. Sie spielten keine eigene politische Rolle und rekrutierten sich hauptsächlich aus der Bauernschaft. Die jahrhundertelange friedliche drusisch-maronitischer Koexistenz hatte jedoch mit Napoleons Vorstoß nach Ägypten und Syrien im Jahre 1799 ihre ersten Risse bekommen, eröffnete er damit doch den Kampf der europäischen Mächte um die Teilung des Osmanischen Reiches, das im Begriff war, wirtschaftlich, politisch und militärisch unterzugehen. Frankreich verstärkte in dieser Phase seine Beziehungen zu den Maroniten und verwandelte sie in eine Einflusssphäre für seine Politik in der Levante. Dies trug dazu bei, das konfessionelle Bewusstsein der Maroniten zu stärken, die in dieser Phase die Mehrheit der Bevölkerung im drusischen Emirat stellten, und ihm politischen Charakter zu verleihen. Auch nahm der Einfluss des maronitischen Klerus zu, der die Emanzipationsbewegung der Maroniten von der osmanischen und drusischen Herrschaft anführte. Die Schwächung der drusischen Feudalen während der ägyptischen Besatzung von 1832 bis 1840 führte im Jahre 1841 zum ersten Bürgerkrieg zwischen den Drusen, die von Großbritannien unterstützt wurden, und den pro-französischen Maroniten. Sowohl die Maroniten als auch die Drusen wurden so zu Spielbällen im britisch-französischen Kampf um das "Erbe des kranken Mannes am Bosporus".
In der Folge wurde die libanesische Krise internationalisiert und das Emirat in drusische und maronitische Bezirke geteilt. Das Wiederaufflammen der Konfrontation zwischen Drusen und Maroniten im Jahre 1860, bei der es zu Massakern an Christen im Libanon und in Syrien kam, führte zu einer französischen Intervention. Die europäischen Mächte setzten schließlich ein autonomes politisches System im Libanon durch, das von 1861 bis 1914 existierte. Der Libanon blieb zwar Teil des türkischen Reiches. Er wurde fortan aber von einem nichtlibanesischen christlichen Gouverneur und einem sich aus Vertretern der Religionsgemeinschaften rekrutierendem Rat regiert. Damit war der Grundstein für das spätere politische konfessionelle System im Libanon gelegt, in dem die Maroniten die Schlüsselrolle einnehmen sollten. Im Regierungsrat bekamen die Maroniten vier, die Drusen drei, die Griechisch-Orthodoxen zwei sowie die Griechisch-Katholiken, die Schiiten und die Sunniten jeweils einen der zwölf Sitze. Die Phase der drusischen Herrschaft war damit beendet. Die autonome Bergregion erlebte in den Jahren danach einen wirtschaftlichen Aufschwung und eine kulturelle Blüte. Der libanesische Markt wurde für das französische Kapital geöffnet, wobei maronitische Händler eine wichtige Rolle spielten. Gleichzeitig kam es dank der Bildungsarbeit europäischer Missionare zu einet kulturellen Renaissance. Die Christen, und unter ihnen vor allem die Maroniten, erhielten dank ihrer Öffnung zu Europa deutlichen Auftrieb im Verhältnis zu den Muslimen.
Mit dem Zusammenbruch des türkischen Reiches infolge des Ersten Weltkrieges schlug auch die Stunde der Maroniten. Der arabische Orient wurde aufgrund des Sykes-Picot-Abkommens von 1916 zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt, wobei den Franzosen das heutige Staatsgebiet des Libanons und Syriens zufiel. Die Gründung des libanesischen Staates sollte den Bestrebungen der arabischen Nationalisten nach einem einheitlichen Staat entgegenwirken und die Forderungen der maronitischen Eliten nach einem von Syrien unabhängigen Libanon erfüllen. Deshalb wurde auch das Staatsgebiet des Libanons vergrößert. Der mehrheitlich von Maroniten bewohnten Bergregion wurden die sunnitischen Küstenstädte Beirut, Sidon und Tripolis sowie die schiitischen Regionen im Süden und Osten zugeschlagen. In der Zeit der französischen Mandatszeit von 1918 bis 1943 bauten die Maroniten ihre Vormachtstellung im libanesischen Staat aus, während die Muslime nach einer Einheit mit Syrien strebten. Hinsichtlich der nationalen Identität lehnten die maronitischen Eliten die Zugehörigkeit des Libanons zur arabischen Nation ab, wie sie von den Vertretern der Sunniten verlangt wurde. Sie beriefen sich auf die phönizische Vorgeschichte des Landes und predigten einen libanesischen Nationalismus. Zwischen diesen beiden entgegengesetzten Tendenzen - vertreten durch den maronitischen Staatspräsidenten Bechara El Khoury (1890-1964) und durch den sunnitischen Ministerpräsidenten Riad as-Solh (1894-1951) - kam es 1943 zum Kompromiss. Beide Politiker einigten sich auf eine Definition des Libanons als "Land mit arabischem Gesicht". Kurz darauf erklärte das Land seine Unabhängigkeit.
Die politische Dominanz der Maroniten im Libanon setzte sich nach der Unabhängigkeit fort. Durch das befugnisreiche Amt des maronitischen Staatspräsidenten und eine christliche Mehrheit von 55 Prozent der Parlamentssitze bestimmten die Maroniten bis 1989 die libanesische Politik. Dieser Umstand wirkte innerhalb der Maroniten und in ihrem Verhältnis zu den anderen Konfessionen in doppelter Hinsicht sehr negativ. Zum einen hat das Festhalten an den politischen Privilegien die demokratischen Kräfte unter den Maroniten geschwächt und die Position der rückwärtsgerichteten politischen Kräfte gefestigt. Zum anderen rief die maronitische Sonderstellung die politische Opposition der muslimischen Konfessionen hervor, die nach einer größeren Beteiligung an der Macht strebten und für den aufsteigenden arabischen Nationalismus in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren empfänglich waren.
Die Vormachtstellung der Maroniten brach in Folge des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 zusammen. Schuld daran war die Unfähigkeit des politischen Systems, einen nationalen Konsens hinsichtlich des israelisch-arabischen Konfliktes zu erzielen. Die Etablierung der PLO (Palestine Liberation Organization) im Libanon, von wo sie ihren bewaffneten Kampf gegen Israel führte, rief eine Polarisierung der Libanesen hervor. Die Sunniten ergriffen für die Palästinenser Partei, während sich die maronitischen Milizen auf Israel stützten. Der Libanon wurde zum Schauplatz des israelisch-arabischen Konfliktes. Der Bürgerkrieg endete mit einer dreifachen Niederlage der maronitischen Parteien. Zum einen verloren sie aufgrund des Taif-Abkommens von 1989 ihre Vormachtstellung; der sunnitische Ministerpräsident bekam mehr Machtbefugnisse. Zweitens wurde die Zugehörigkeit des Libanons zur arabischen Welt in der Verfassung verankert. Und schließlich geriet der Libanon mit Zustimmung der USA unter syrische Obhut. Infolgedessen kam es zu einer politischen Marginalisierung der Maroniten. Ihre politischen Führer, wie der Chef der Phalangistenpartei Amin Gemayel und General Michel Aoun, gingen ins Exil, Milizenchef Samir Gagaa kam ins Gefängnis.
Vom dadurch entstandenen Vakuum profitierten vor allem die Sunniten und die Schiiten während der syrischen Herrschaft von 1990 bis 2005. Erstere bauten unter Führung des ehemaligen Premiers Rafik Al Hariri und mit saudischer Hilfe ihre Position in der libanesischen Wirtschaft aus. Die anderen etablierten mit iranisch-syrischer Unterstützung unter Führung der Hisbollah eine militärische Macht, die im Jahr 2000, nach 18-jähriger Besatzung, den israelischen Abzug aus dem Südlibanon erwirkte. Nach der "Zedernrevolution", die infolge der Ermordung des ehemaligen Premiers Al Hariri ausbrach, war Syrien unter dem Druck Frankreichs und der USA gezwungen, seine Armee aus dem Libanon abzuziehen. Die antisyrische maronitische Opposition kehrte zurück. Das politische Gewicht der Maroniten blieb jedoch angesichts ihrer politischen Zersplitterung sehr bescheiden. Im gegenwärtigen sunnitisch-schiitischen Machtkampf sind die maronitischen Parteien in beiden Lagern vertreten. Während sich General Aoun der Hisbollah geführten Opposition angeschlossen hat, steht die Phalangistenpartei vom ehemaligen Präsidenten Gemayel und Milizenchef Gagaa auf der Seite des sunnitischen Hariri-Clans.
Der Ausbruch der libanesischen Krise nach dem Krieg zwischen der Hisbollah und Israel brachte den Libanon an den Rand eines Bürgerkrieges. Der Staat war gelähmt, und das den Maroniten zustehende Amt des Staatspräsidenten blieb ein halbes Jahr lang vakant. Erst nach dem Abkommen von Doha am 25. Mai 2008 konnte der maronitische Armeechef Michel Suleiman zum Präsidenten des Libanon gewählt werden. Ob er die verlorenen Positionen der Maroniten zurückerobern wird, ist fraglich. Das jetzige Kräfteverhältnis zwischen den Religionsgemeinschaften hat sich zu Ungunsten der Maroniten verschoben. Ihre goldene Zeit als Träger der libanesischen Idee scheint vorbei zu sein. Sowohl Sunniten und Schiiten als auch die anderen Religionsgemeinschaften stehen inzwischen zum libanesischen Staat, der schwach bleiben wird, solange das konfessionelle System besteht. Dies vermindert aber keinesfalls die große soziale und kulturelle Bedeutung sowie die Weltoffenheit dieser Gemeinschaft, was jedoch nur durch die Reformierung des politischen Systems voll zur Geltung kommen könnte.
Bis in die 1980er Jahre galten die Sunniten als die Konfession, die sich am wenigsten mit dem libanesischen Staat identifizierte. Ihre Städte gehörten lange Zeit zu den Hochburgen des arabischen Nationalismus. Das Verhältnis der Sunniten zum libanesischen Staat war stets in großem Maße vom Aufstieg und Niedergang des Projektes der arabischen Einheit und Solidarität abhängig. Es entwickelte sich im Laufe der vergangenen sechs Jahrzehnte von einer totalen Ablehnung bis zur völligen Anlehnung.
Die Sunniten repräsentieren mit ihrem Festhalten am Koran und an den Reden des Propheten (Hadith) die islamische Orthodoxie. In der Frage der Nachfolge des Propheten, die kurz nach seinem Tod zur Spaltung der Muslime führte, vertreten sie die Ansicht, dass der Kalif aus dem Stamm des Propheten und ein gerechter Mensch sein sollte. An die Unfehlbarkeit des Kalifen und an die Notwendigkeit seiner Abstammung aus der Familie des Propheten glauben sie nicht. Die libanesischen Sunniten gehören zur Hanafitenschule des Sunnismus, die im 7. Jahrhundert von dem Gelehrten Ibn Hanifa gegründet wurde und bei der Auslegung der heiligen Texte der Vernunft mehr Raum einräumt. Sie wurden erst 1920 libanesisch und stellen vor allem in den Küstenstädten Sidon, Beirut, Tripolis und Akkar die Bevölkerungsmehrheit. Den Status einer Religionsgemeinschaft bekamen sie erst während der französischen Mandatszeit. Mit etwa 29 Prozent der Gesamtbevölkerung bilden sie die drittgrößte Religionsgemeinschaft nach den Schiiten und den Maroniten. Genaue aktuelle statistische Angaben über die Bevölkerungszahl im Libanon gibt es jedoch nicht.
Aufgrund ihrer geographischen Lage standen die sunnitischen Küstenstädte lange Zeit unter der Kontrolle der islamischen Kalifen und Statthalter in Damaskus, Bagdad und Istanbul - mit einigen Unterbrechungen während der Kreuzzüge. Während der türkischen Herrschaft von 1517 bis 1917 befanden sie sich politisch und religiös unter der Autorität der Sultane, die faktisch als Kalifen galten. Erst nach dem Erwachen des arabischen Nationalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewannen die Ideen des arabischen Nationalismus, der die Unabhängigkeit der arabischen Völker von der türkischen Herrschaft verlangte, an Einfluss. So unterstützten die sunnitischen Eliten die 1916 vom haschemitischen Cherif Hussein geführte Revolution. Sie lehnten gleichzeitig die Teilung des arabischen Orients in Mandatsgebiete zwischen Großbritannien und Frankreich ab. Die französische Gründung des libanesischen Staats, der 1920 an erster Stelle den Interessen der Maroniten diente, stieß bei den Vertretern der Sunniten auf Ablehnung. Sie betrachteten diesen Schritt als Ausdruck der kolonialen Teilungspolitik der arabischen Welt und verlangten den Verbleib ihrer Regionen bei Syrien. Diese Haltung änderte sich erst angesichts der Schwäche der nationalen syrischen Bewegung Anfang der 1940er Jahre, als die sunnitischen Oberschichten die Unabhängigkeit des Libanon akzeptierten. Ihre Position im neuen Staat blieb jedoch zweitrangig. Sie bekamen das Amt des Ministerpräsidenten zugesprochen, der so gut wie keine Macht besaß. Sowohl bei der Verteilung der politischen Macht als auch des nationalen Reichtums standen sie hinter den Maroniten, die in dieser Etappe den Libanon in fester Hand hielten.
Die politische und wirtschaftliche Benachteiligung in den 1950er und 1960er Jahren machte die Sunniten für die Ideologie des arabischen Nationalismus empfänglich. So dienten sie als Einflusssphäre der ägyptischen Politik während der Ära des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser. Die Masse der Sunniten unterstützte seine antiwestliche Politik, was zur Konfrontation mit dem prowestlichen christlichen Lager und 1958 zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen führte. Die Allianz der Sunniten mit der PLO, die den Libanon in eine Basis für den bewaffneten Kampf gegen Israel verwandelte, sollte ihnen zu mehr Macht verhelfen. Dieses Bündnis gehört zu den Hauptursachen des Bürgerkriegs, der den sunnitisch-maronitischen Konsens von 1943 durch die Konfrontation zwischen der PLO und den von Israel unterstützten christlichen Milizen zerstörte. Die Vertreibung der PLO infolge des israelischen Libanonkrieges 1982 war für die nationalarabische Ideologie eine bittere Niederlage. Der Einfluss Saudi-Arabiens unter den Sunniten verstärkte sich, gleichzeitig wucherten religiös fundamentalistische Gruppierungen - besonders im Norden. Durch ihren Aufstieg entriss die schiitische Hisbollah, die mit iranisch-syrischer Unterstützung den bewaffneten Kampf gegen Israel weiterführte, den Sunniten die nationale Karte. Mehrere religiöse und politische Führer der Sunniten wurden ermordet.
Das At-Taif-Abkommen, das 1989 den Bürgerkrieg beendete, verbesserte die Teilhabe der Sunniten an der Macht. Aber dies blieb angesichts der totalen syrischen Kontrolle nur auf dem Papier so. Ihr soziales und vor allem wirtschaftliches Gewicht nahm mit dem Aufstieg des Milliardärs und ehemaligen Premiers Rafik Al Hariri zu. Mit saudischer Hilfe gelang es ihm, den sunnitischen Mittelstand zu stärken und den Bildungsrückstand im Verhältnis zu den Christen aufzuholen. Der Wiederaufbau des zerstörten Beiruts sollte die politische Bedeutung der Sunniten demonstrieren. Rafik Al Hariri schaffte es, die veraltete politische Klasse der Sunniten zu erneuern. Er scheiterte jedoch letztlich daran, die Hindernisse des konfessionellen politischen Systems zu überwinden. Sowohl die antisyrische christliche Opposition als auch die Hisbollah misstrauten ihm und bekämpften ihn. Außerdem waren seine Versuche, unter den Bedingungen der syrischen Herrschaft eine souveräne politische Rolle einzunehmen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Mit der Ermordung von Al Hariri am 14. Februar 2005 zerbrach das Bündnis der Sunniten mit Syrien. In der Folgezeit änderten sich die Rollen der Religionsgemeinschaften radikal. Die Sunniten nehmen gegenwärtig die alte Position der Maroniten ein und verlangen die endgültige Anerkennung des Libanon durch Syrien. Unter ihnen ist das nationalarabische Bewusstsein, das weltlichen Charakter besaß, von einem konfessionellen Bewusstsein verdrängt worden. Entscheidend für diese Entwicklung ist der Machtkampf der sunnitischen Führung mit der Hisbollah. Dieser Konflikt, der sich in der Frage der Bewaffnung der Hisbollah kristallisiert, reflektiert in erheblichem Maße die regionale Konfrontation zwischen den USA, Saudi-Arabien und Israel mit der Achse Damaskus-Teheran.
Die Schiiten im Libanon gehören zur Gruppe der gemäßigten Zwölferschia, die auch die Mehrheit der Bevölkerung im Irak und im Iran stellt. Hinsichtlich des Festhaltens an den Grundpfeilern des Islams unterscheiden sie sich nicht von den Sunniten. Die Schiiten glauben jedoch an die göttliche Bestimmung des Kalifen Alis und der elf Imame, die aus seiner Ehe mit Fatima, der Tochter des Propheten Mohammed, entstammen. Diese Imame gelten nach der schiitischen Lehre als unfehlbar. Der letzte von ihnen, Al Mahdi, verschwand im Jahre 873 und soll in der Endzeit wieder erscheinen. Unter den Religionsgemeinschaften gelten die Schiiten in Libanon als die Spätzünder. Ihr Aufstieg während der vergangenen drei Jahrzehnte verschob das politische Kräfteverhältnis. Dies liegt in ihrem demographischen Gewicht und in ihren regionalen Bündnissen begründet.
Auch die libanesischen Schiiten erhielten 1926 erstmalig durch die französische Mandatsmacht den Status einer anerkannten Religionsgemeinschaft. Zuvor waren sie von den sunnitischen Kalifen und Statthaltern als Häretiker des Islams betrachtet und verfolgt worden. Ihre ländlichen Wohngebiete im Süden und Osten blieben nach der Unabhängigkeit sozial und wirtschaftlich unterentwickelt. Bis in die 1970er Jahre hinein besaßen die Schiiten kein politisches Gewicht. Sie bekamen das unbedeutende Amt des Parlamentspräsidenten und wurden im Staatsapparat benachteiligt. Die schiitische politische Klasse rekrutierte sich aus feudalen Familien, die kein Interesse hatten, den Rückstand ihrer Konfession zu überwinden. Auch die schiitische Geistlichkeit litt in dieser Phase an akuter Schwäche. Sie besaß weder soziale noch Bildungsinstitutionen, wie andere Konfessionen sie hatten. Dieser Zustand änderte sich allmählich mit der Entwicklung einer Elite und dem Aufstieg eines schiitischen Mittelstands dank der Emigration nach Westafrika und in die Golfstaaten. Außerdem verstärkten nationale, weltliche und vor allem linke Parteien ihren Einfluss unter den Schiiten, was zu ihrer sozialen und politischen Mobilisierung führte.
Mit der Gründung des schiitischen Oberen Rats durch den Geistlichen Mussa As-Sadr im Jahre 1969 gingen die Schiiten in die Offensive. Sie verlangten mehr politische Beteiligung und vor allem die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Regionen. Die gleichzeitige bewaffnete Etablierung der PLO im Südlibanon ging zu Lasten der Schiiten, die in dieser Phase zwischen dem Hammer der Israelis und dem Amboss der Palästinenser standen. As-Sadr verhielt sich während des Bürgerkrieges 1975 neutral zwischen den christlichen Milizen und der PLO und ihren libanesischen Verbündeten. Er gründete trotzdem die Amal-Miliz, die den Palästinensern feindlich gesonnen war. Das Verschwinden von As-Sadr 1978 während einer Reise nach Libyen hinterließ ein politisches Vakuum unter den Schiiten, die eine bedeutende Integrationsfigur verloren. Für die weitere Entwicklung der Schiiten spielte der Sieg der islamischen Revolution in Iran 1979 und der israelische Libanonkrieg von 1982 eine zentrale Rolle. Beide Ereignisse leisteten der Hisbollah Geburtshilfe.
Die Beziehungen der libanesischen Schiiten zu Iran reichen übrigens bis ins 16. Jahrhundert zurück. Damals halfen schiitische Gelehrte aus Südlibanon der Safawiden-Dynastie bei der Etablierung des Schiismus als Staatsreligion. Deshalb war das Regime von Ruhollah Khomeini von Anfang an bemüht, die libanesischen Schiiten für seine Revolution zu gewinnen. Revolutionsgardisten halfen bei der Bewaffnung der Hisbollah, und der iranische Staat finanzierte ihre sozialen Institutionen.
Auf der anderen Seite trieb die israelische Besatzung des Südlibanons, die von 1982 bis 2000 währte, die Schiiten mehr und mehr in die Arme der Hisbollah, die den Kampf gegen die Besatzer führte und praktisch die alte Rolle der PLO übernahm. Die Hisbollah konnte mit syrisch-iranischer Hilfe die weltlichen schiitischen Kräfte und die konkurrierende Amal-Organisation verdrängen. Es gelang ihr, im Jahre 2000 den israelischen Rückzug aus dem Süden zu erzwingen und sich in den Augen vieler Libanesen als Befreiungskraft zu profilieren. Mit dem Aufstieg der Hisbollah wurden die Schiiten zur stärksten politischen Kraft im Libanon, was die Ängste der anderen Religionsgemeinschaften schürte. Das Festhalten der Gottespartei an ihren Waffen besonders nach dem syrischen Abzug und ihre Allianz mit Syrien und Iran führte zum Konflikt mit den Sunniten und ihren drusischen und christlichen Verbündeten. Der jüngste Krieg zwischen Israel und der Hisbollah 2006 trug noch dazu bei, die Verbindung der Hisbollah mit ihrer schiitischen Basis zu stärken und die schiitische Zivilgesellschaft zu schwächen.
Die gegenwärtige schiitisch-sunnitische Polarisierung gefährdet die innere Stabilität des Libanon. Das Land stand Anfang Mai dieses Jahres am Rande eines Bürgerkrieges, der in letzter Sekunde durch das Abkommen von Doha verhindert wurde. Von der Stärke der Hisbollah können letztlich weder der Libanon noch die Schiiten profitieren. Die Machtspiele der Maroniten, Sunniten und Schiiten erwiesen sich bisher als die größte Bremse für die politische Stabilität und die Demokratie. Die konfessionelle Vielfalt im Libanon kann im Rahmen eines laizistischen Systems zu seiner kulturellen Bereicherung führen. Ihre Politisierung brachte den Libanesen nur Krieg und Elend.