Unfallversicherung
Der kleinste Sozialversicherungszweig
wird reformiert - für die Berufsgenossenschaften ein großes Ding, für die Arbeitnehmer kein Grund zur Beunruhigung
Öffentliche Anhörungen sind oft eine ziemlich trockene Angelegenheit. Auch am 23. Juni ackerten sich Abgeordnete und Experten im Ausschuss für Arbeit und Soziales mit ernsten Mienen durch Paragrafen und Einzelaspekte der geplanten Reform der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV). Doch plötzlich erfüllte lautes Lachen den großen Anhörungssaal des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses. "Ich habe mir das Gesetz mal angeguckt", berichtete der Sachverständige Richard Giesen. "Es sind ein paar Schwächen darin, es ist schwer zu lesen. Wir haben hier merkwürdige Ausdrücke", fasste der Arbeitsrechtsprofessor seine Eindrücke zusammen und sprach damit ganz offensichtlich den Teilnehmern der Anhörung aus der Seele.
In der Tat hat bereits der Titel des von der Bundesregierung vorgelegten Entwurfs ( 16/9154) einen gewissen abschreckenden Charakter: "Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz", kurz UVMG ( 16/9154). Und auch ein Kernbegriff der Reform des kleinsten Zweiges der deutschen Sozialversicherung, der "Überaltlastausgleich", dürfte von der Gesellschaft für deutsche Sprache kaum einen Schönheitspreis erhalten. Gleichwohl fanden in der abschließenden Plenardebatte am 26. Juni alle Redner bis auf den der FDP-Fraktion lobende Worte für das neue Konzept.
Um das zu verstehen, lohnt ein Blick auf die Funktionsweise der GUV: Sie ist der einzige unter den fünf Sozialversicherungszweigen, der ausschließlich aus Beiträgen der Arbeitgeber bezahlt wird. Wenn Unfälle am Arbeitsplatz oder auf dem Weg dorthin passieren, ist jeder Arbeitnehmer automatisch abgesichert. Dasselbe gilt für Berufskrankheiten. Rund eine Million Menschen erhalten derzeit eine Rente aus der GUV. Jährlich werden rund 11 Milliarden Euro verausgabt, unter anderem für Rehabilitation und Entschädigung. Träger der GUV sind die Unfallkassen der öffentlichen Hand und die nach Branchen gegliederten gewerblichen Berufsgenossenschaften.
Jede Berufsgenossenschaft erhebt ihre Beiträge im Umlageverfahren rückwirkend für das vergangene Jahr. Unternehmen mit hohen Risiken zahlen einen höheren Beitrag als solche mit niedrigen Risiken. Branchen, in denen die Beschäftigtenzahlen aufgrund des Strukturwandels sinken, wie der Bergbau oder das Baugewerbe, haben nun seit einiger Zeit Probleme, ihre hohen Altlasten, also Renten für Unfälle aus früheren Boomjahren, zu tragen.
Hier nun greift der Überaltlastausgleich, den der Bundestag mit den Stimmen der Koalition und der Linksfraktion gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der Grünen beschlossen hat: Jede Berufsgenossenschaft trägt die Lasten, die aktuell durch Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten in ihrer Branche entstanden sind, zunächst selbst. Der Rest, die so genannte Überaltlast, wird unter den anderen Berufsgenossenschaften solidarisch aufgeteilt; und zwar nach dem Schlüssel 70 Prozent nach Entgelten und 30 Prozent nach Renten. Laut der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, dem Spitzenverband der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen, werden dadurch die Beiträge für Unternehmen der Dienstleistungsbranche steigen. Um diesen Betrieben die Systemumstellung zu versüßen, wurde die Übergangsfrist um drei Jahre bis zum Jahr 2013 verlängert.
Ein weiterer Kernpunkt der Reform ist - ganz ohne komplizierte Vokabeln - die Reduzierung der Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften von 23 auf neun bis Ende 2009. Das geht diesen zu schnell, aber die Koalitionsfraktionen ließen in der Beschlussempfehlung ( 16/9788) keinen Zweifel daran, dass sie die Verringerung der Trägerzahl "ohne Abstriche und innerhalb der vorgesehenen Frist realisiert" haben wollen. Ansonsten, so der SPD-Experte Wolfgang Grotthaus, sehe die Koalition gesetzgeberischen Handlungsbedarf.
Auch die Pflicht zur Angabe der geleisteten Arbeitsstunden mit der Jahresmeldung wurde beibehalten, obwohl die Arbeitgeber dagegen vehement protestiert hatten. Der FDP-Abgeordnete Heinz-Peter Haustein kritisierte, den Betrieben werde unnötig neue Bürokratie aufgebürdet. Volker Schneider (Die Linke) fügte hinzu, würden Daten individualisiert von den Arbeitnehmern erhoben, "könnte dies irgendwann zur Einführung einer paritätischen Finanzierung genutzt werden". Der CDU-Abgeordnete Gerald Weiß erwiderte, die Meldung der geleisteten Arbeitsstunden sei keine Neuerung, sondern bereits heute im Sozialgesetzbuch verankert. "Es ist eine Mär, von der flächendeckenden Einführung der Stechuhr zu sprechen", betonte Weiß.
Die Oppositionsanträge ( 16/5616, 6645, 9312) erhielten keine Mehrheit. Der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner (SPD) bilanzierte, mit der Reform werde es gelingen, "Bewährtes zu modernisieren". Der Grünen-Abgeornete Markus Kurth bemängelte, bei der Prävention sei zu wenig getan worden. Die FDP kritisierte, dass bei der Reform der Leistungsteil ausgeklammert worden sei. Im Koalitionsvertrag war das tatsächlich vorgesehen, wurde von Union und SPD aber wegen Differenzen auf die nächste Legislaturperiode vertagt. Für die Versicherten bleibt die - auch sprachlich - einfache Botschaft: Vorerst gibt es keine Leistungskürzungen.