Gesellschaft
Der Literat Bernd Wagner hält ein stilvolles Leben trotz Armut für möglich
Arm zu werden ist ganz einfach, zählt Bernd Wagner an den Fingern ab: durch Krankheit, Heirat, Scheidung, Kündigung, durch höhere Ausgaben als Einnahmen oder Schäden, die nicht versichert sind. Allein in Deutschland leben nach EU-Definition zehn Millionen Arme, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens beziehen. Tendenz steigend.
Armut schändet nicht, im Gegenteil, bewusst gelebt, schafft sie neue Freiheiten, ist Wagners provokante Philosophie in einer auf das Materielle ausgerichteten Welt. Warum nicht mit Hartz-IV auf Diplomatenbanketten speisen, Theater und Oper genießen oder den hiesigen Wintern unter die Palmen von Bali entfliehen? Liest man sich durch Wagners bestsellerverdächtiges Bändchen "Berlin für Arme. Ein Stadtführer für Lebenskünstler", ist man verblüfft, wie einfach das sein soll mit etwas Abenteuerlust und einem selbstbewussten Blick für die Möglichkeiten.
Die Zielgruppe ist riesig. Mangel an Erwerbsarbeit, sittenwidrige Niedriglöhne, Hartz-IV - selbst mit Doktortitel - und Kinderarmut heute werden absehbar zur Explosion von Altersarmut in ganzen Regionen führen. Also ist Umdenken gefragt. Wagner sagt auf seine gelassene, manchen gerade darum aufstörende Art: "Lassen Sie uns stolz darauf sein, was wir alles nicht brauchen. Und lassen Sie uns gemeinsam Wege finden, das, was wir brauchen, mit Würde und Intelligenz zu erwerben." Solange die Schere zwischen Arm und Reich derart auseinander klafft, warum sollen Arme nicht am Reichtum partizipieren - möglichst ohne Kaufhausdetektive oder Kripo!
Zeit, die wichtigste Voraussetzung für ein selbst gestaltetes Leben, weiß Bernd Wagner, haben Arbeitslose meist im Überfluss. Mehr Geld wäre zwar angenehm, sei aber zweitrangig. Weit wichtiger sei die Kunst zu leben.
Wagner weiß, worüber er schreibt. Der gestandene Schriftsteller, vor 60 Jahren im sächsischen Wurzen geboren, 1985 nach Westberlin ausgereist, hat bislang ein Dutzend erfrischender Romane und Erzählbände vorgelegt. Zuletzt erschienen "Club Oblomow" (1999), eine süffisante Persiflage auf eine Boheme, die schöpferische Unlust und komfortables Leben zu ihrem Programm erhebt, und "Wie ich nach Chiuahua kam" (2003). Darin erzählt er von seinen Streifzügen durch die entlegensten Winkel Nordamerikas und Mexikos - fast ohne Geld, dafür mit einer gehörigen Portion Neugier. Und weil kaum ein Schriftsteller von seiner Literatur leben kann, arbeitete er nebenher als Ein-Euro-Jobber und Landvermesser - Kafka lässt grüßen. Die letzten beiden Jahre fand er sich wieder im Kreis der Hartz-IV-Bezieher, dem Ausgangspunkt für seinen Selbstversuch: Wie lässt sich arm aber stilvoll leben?
Das erste Gebot: Zeige Dich in der Öffentlichkeit stets nobel gekleidet! Überlasse Jeans und Anorak getrost den anderen. Einen reichen Fundus bieten alte Kleiderschränke, Secondhand-Läden, manchmal auch ein Kaufhausbrand.
Zweites Gebot: Informiere Dich gründlich! Nutze kostenlose Stadtmagazine und Veranstaltungspläne um herauszufinden, welche Vernissagen, Stiftungen, Botschaften sich demnächst mit Banketten oder Büffets feiern. Voraussetzung, um auf diese Weise wöchentlich mindestens ein Mal lukullisch zu speisen, sind Visitenkarten aus dem Automaten, etwa als Ethnologe, oder ein Presseausweis, den man sich wie jeden anderen Ausweis zum Beispiel auf Bali ausstellen lassen kann.
Drittes Gebot: Gib kein überflüssiges Geld für etwas, das auch kostenlos zu haben ist. Wagner empfiehlt, wenn nicht gleich eine Renaissance des Jäger- und Sammlerdaseins, so doch stärkere Selbstversorgung, wobei sich Tagesausflüge mit dem Fahrrad bestens eignen, um je nach Jahreszeit Bärlauch, Kräuter, Beeren, Pilze zu sammeln und Wintervorräte an Obst und Nüssen anzulegen. Wo sich das in und um Berlin lohnt, zeigt eine sicher nicht ganz ernst zu nehmende Karte. Im Übrigen: Mundraub sei nicht strafbar, und Enten könne man nicht nur füttern, sondern auch futtern. Und wozu teure Theater- oder Opernkarten, kann man die Billigsten doch oft auch für bessere Plätze nutzen, oder zum freien Eintritt nach der Pause erscheinen. Bei der Gewissensfrage Schwarzfahren oder nicht, plädiert er angesichts drastischer Bußgelder eher für Tricks zur Fahrkartenmehrfachverwertung - außer bei Nachtfernzügen. Hier tun sich für Kurzurlaube in Paris oder Budapest ungeahnte Möglichkeiten auf.
Das vierte, und Hauptgebot: Entdecke und nutze deine Möglichkeiten! Wagners Tipps reichen vom Selberkochen mit schmackhaften und preiswerten Rezepten über den Umgang mit überlasteten Ämtern bis zu Reisen in ferne Länder. Sein Rat: Nicht Reiseprospekte, sondern Statistiken über die Staaten mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Verbrauch studieren. Dorthin könne man auch mit Hartz-IV günstig reisen. Das Flugticket sei kaum ein Problem, wenn man es durch zwischenzeitliches Untervermieten seiner Wohnung finanziere. Wagners lebenserfahrene Überzeugung lautet: "Man kann arm sein und trotzdem ein gutes Leben haben - wenn man die Verantwortung dafür nicht anderen überlässt."
Wagners Buch bietet literarisch zugespitzte, bislang einmalige soziale Denkanstöße. Seine Tochter Luise liefert dazu einen 40-seitigen Serviceteil für Berliner wie Berlin-Besucher, der günstige Adressen für nahezu alle Lebensbelange enthält.
Berlin für Arme. Ein Stadtführer für Lebenskünstler.
Eichborn Verlag, Berlin 2008; 144 S., 8,95 ¤