Studie
Angeblich entfremden sich immer mehr Deutsche von unserer Staatsform. Doch Zweifel sind angebracht
Bislang hat es noch kein Begriff zwei Mal geschafft, von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum "Wort des Jahres" gekürt zu werden. Sollte es dennoch passieren, wäre der Ausdruck "Politikverdrossenheit" wohl der aussichtsreichste Kandidat. Er wurde bereits 1992 zum "Wort des Jahres" gekürt und erlebt in diesen Tagen eine fulminante Wiederauferstehung.
Einer der Gründe dafür ist eine gerade veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die zu dem Ergebnis kommt, die Bürger gingen auf Distanz zur Politik und die Demokratieentfremdung nehme dramatisch zu. Der Studie zufolge glaubt ein Drittel der Bevölkerung nicht daran, dass Demokratie Probleme löst, in Ostdeutschland sind es gar 53 Prozent. Als "erschreckend" wurden die Befragungsergebnisse von den Forschern und vielen Medien bezeichnet - und in den meisten Fällen mit der viel zitierten Politikverdrossenheit garniert. Allerdings: Wirklich neu sind diese Zahlen nicht.
Der Politikwissenschaftler Gert Pickel aus Frankfurt/Oder mahnt deshalb zur Gelassenheit. "Diese Ergebnisse unterscheiden sich nicht wesentlich von den Befunden, die wir in den vergangenen zehn Jahren hatten. Zudem wurde in der Studie nur gefragt, wie zufrieden die Bürger mit der aktuellen Ausgestaltung der Demokratie sind und nicht, was sie generell von der Idee der Demokratie halten." Darüber ärgert sich auch Jürgen Falter, Politikwissenschaftler aus Mainz: "Nach Alternativen zur Demokratie wurde hier überhaupt nicht gefragt. Nach meiner Auffassung hat sich der Glaube der Bürger an die Leistungsfähigkeit der Demokratie allgemein kaum verändert." Festzustellen sei jedoch im Hinblick darauf, wer die Demokratieskeptiker sind, dass ein tiefer Spalt durch Deutschland gehe. "Das sind die Abgehängten: die, die Angst haben, ihre Arbeit zu verlieren, die Arbeitslosen und die Hartz-IV-Empfänger. Und davon sind in Ostdeutschland mehr Menschen betroffen als in Westdeutschland", analysiert Falter. Gerade die Menschen, so ein Ergebnis der Studie, die ihre eigene finanzielle Situation als schwierig wahrnehmen, gehen auf Distanz zum politischen System, vor allem in den neuen Bundesländern. "Das erinnert mich sehr an die bundesdeutsche Bevölkerung in den 1950er-Jahren. Betrachten wir diese Zeit, sprechen wir von Schönwetter-Demokraten, deren Einstellung zum politischen System immer eng an die Erfüllung ihrer Leistungserwartungen gekoppelt war", sagt Falter. Das habe sich erst durch das Wirtschaftswunder geändert, "das durch eine lange Phase des wirtschaftlichen Aufstiegs das Vertrauen in das System stabilisiert hat". Derartiges habe es im Osten noch nicht gegeben, ergo habe sich nicht das gleiche Maß an Demokratievertrauen entwi-ckelt. "Das braucht Geduld", so Falter.
Wesentlich weniger auffällig erscheinen die Daten, die die FES erhoben hat, auch dann, wenn man sie mit anderen Staaten vergleicht. Regelmäßig kommen Erhebungen wie das "Eurobarometer" oder der "World Vallue Survey" gerade für postkommunistische Staaten wie Polen, Rumänien oder Bulgarien zu ähnlichen Ergebnissen wie für Ostdeutschland. Falter wundert das nicht: "In diesen Transformationsstaaten gibt es viele Menschen, die dem alten System hinterhertrauern oder enttäuscht sind, dass sie nicht innerhalb weniger Jahre auf das gleiche Kosum- oder Einkommensniveau gekommen sind wie die Westeuropäer." Aus dieser Enttäuschung wachse Skepsis in Bezug auf die Leistungsfähigkeit des politischen Systems. "Aber aus Unzufriedenheit mit dem Output des Systems wird nicht automatisch eine Ablehnung der Demokratie als Staatsform", betont Falter.
Auch die in der Studie beklagte Wahlmüdigkeit - 47 Prozent der Befragten können sich "vorstellen", dass sie bei der nächsten Bundestagswahl nicht wählen gehen - relativiert sich im internationalen Vergleich. Die Wahlbeteiligung ist in Deutschland zwar von durchschnittlich deutlich mehr als 80 Prozent bis in die 1990er-Jahre auf rund 78 Prozent bei den vergangenen beiden Bundestagswahlen gesunken. Dennoch liegt Deutschland nach Erhebungen des International Institute for Democracy and Electoral Assistance weltweit im vorderen Drittel und annähernd gleichauf mit Griechenland und Israel. Zum Vergleich: In den USA und der oft als Musterdemokratie bezeichneten Schweiz liegt die durchschnittliche Wahlbeteiligung bei unter 50 Prozent.
Die Forderungen nach mehr Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger, die in den vergangenen Tagen von verschiedenen Seiten laut wurden, teilen die Experten nicht. "Gerade auf Bundesebene hielte ich die Einführung direktdemokratischer Elemente weder für machbar noch in Sachfragen für wünschenswert", sagt Falter. Dafür seien die Themen, um die es dabei geht, "viel zu kompliziert". Zudem sei es ein Trugschluss, von den vielen direktdemokratischen Entscheidungen etwa in der Schweiz auf mehr Interesse der Bürger zu schließen. "Das ist in der Schweiz auch nicht größer als bei uns", so Falter. Auch Gert Pickel hält die bisherigen Möglichkeiten der politischen Teilhabe für durchaus ausreichend. "Es geht nicht darum, davon noch mehr zu schaffen. Es müssten aber die, die wir haben, stärker respektiert werden", betont er. Wenn Bürgerentscheide nach einer Anstandsfrist doch durch die Politik wieder gekippt würden, schwinde die Lust der Bevölkerung, sich zu beteiligen.
Pickel sieht den Ball eindeutig im Feld des politischen Personals. "Was uns wirklich nachdenklich machen sollte, ist das anhaltende Misstrauen, das Politikern entgegen gebracht wird. Wenn Politiker permanent als bürgerfern und ignorant wahrgenommen werden, ist das die wahre Gefahr für unsere Demokratie. Hier muss man ansetzen", fordert er. Susanne Kailitz z