Michael Winterhoff
Die heutige Kindergeneration wird im Erwachsenenalter zu einer gesellschaftlichen Belastung, sagt der Kinderpsychiater. Der Grund: Unterforderung und Unfähigkeit
Herr Winterhoff, statt in Ihrer Mittagspause in der Sonne zu sitzen, geben Sie ein Interview. Woher nehmen Sie die Disziplin?
Im Augenblick geht es darum, dass ich mich auf unser Gespräch konzentrieren kann. Deshalb schiebt mein psychischer Apparat das Bedürfnis nach Essen oder Schlaf in den Hintergrund.
Macht das einen arbeitsfähigen Menschen aus?
Wenn man hier in der Gesellschaft leben will, auf alle Fälle. Sie können nur arbeiten, wenn Sie eine entwickelte Psyche haben, die diese Impulse zurückdrängt.
Die Wirtschaft klagt über ausbildungsresistente Schulabgänger - woran mangelt es denen?
Das sind Heranwachsende, bei denen psychische Funktionen wie die Fähigkeit, Frustrationen auszuhalten, nicht ausgebildet sind. Das müsste von klein auf trainiert und abverlangt werden wie Lesen, Schreiben, Rechnen.
Wie trainiert man das?
Wenn man das Kind als Kind sieht, als einen Menschen, der in allen Bereichen lernen muss, würde man es auch nach Alter und Fähigkeit warten lassen und nicht immer sofort befriedigen. Nur so ist im Bereich der Psyche Entwicklung möglich. Ich muss 'nein' sagen können, abgegrenzt sein und immer wiederholen. Vor 20 Jahren haben Eltern das intuitiv gemacht.
Und diese Intuition haben wir verloren?
Seit Anfang der 90er-Jahre sehen wir selbst kleine Kinder als Partner, die wir mittels Reden erziehen können. Dabei ist das Wesentliche nicht das Verstehen von Regeln, sondern der Aufbau der Psyche. Und das geht nicht über die Vernunftschiene. Würden wir das auf Tennis übertragen, dann hätten Sie einen Partner, der Ihnen erklärt, wie man spielt. Er spielt Ihnen ein paar Mal vor und erwartet dann, dass auch Sie das können. Wenn Sie den Ball dann nicht übers Netz schlagen, sagt er enttäuscht, sie taugen nichts oder pflaumt sie an. Denn über das Erklären können Sie im Gehirn keine Nervenzellen trainieren.
Ab wann macht Erklären denn Sinn?
Bis Anfang der 90er-Jahre haben wir Kinder als Kinder gesehen, sie klar geführt und kontrolliert. Je älter sie wurden, desto mehr haben wir an ein gewisses Maß an Einsichtsfähigkeit appelliert. Das war gut so. Jetzt unterstellt man aber schon kleinen Kindern, sie könnten sich über Erklärungen entwickeln. Das ist fatal, weil Kinder damit keine Chance auf Entwicklung haben.
Sie schreiben, die Mehrheit der Kinder stagniere auf dem psychischen Reifegrad Zweijähriger. Was fehlt denn da?
Respekt! Jedes Kind unter zweieinhalb Jahren ist respektlos. Erst dann erkennt es den Menschen als Gegenüber, das ihm etwas zu sagen hat. Diese Erkenntnis ist die Eintrittskarte in die Kindheit, in die Menschwerdung. Denn eine Entwicklung der sozialen Fähigkeiten ist nur möglich in der Akzeptanz des Gegenübers.
Woher rührt nun die Respektlosigkeit?
Viele Erwachsene grenzen sich aus Angst um die Liebe ihrer Kinder nicht mehr ab. Eine Oma früher hätte den Enkel verwöhnt, das Lieblingsessen gekocht und dazu gesagt, wasch dir vorher die Hände und sitz ordentlich. Sie hat erzogen. Eine Oma, die geliebt werden will, setzt keine Grenzen mehr. Sie projiziert ihr Bedürfnis nach Anerkennung auf ihren Enkel. Das ist emotionaler Missbrauch und kehrt die Rollen um: Der Erwachsene wird bedürftig, das Kind ist für die Bedürfnisse des Erwachsenen zuständig.
Aber spätestens im Kindergarten erfahren Kinder doch Grenzen.
Obwohl das neurologischen Gesetzen widerspricht, bieten Kindergärten und Schulen heute zunehmend offene Konzepte. Da entscheiden die Kinder, in welcher Neigungsgruppe sie den Vormittag verbringen. Sie können permanent bestimmen und lustorientiert entscheiden. Aber das zum Grundsatz zu machen, verhindert ihre Entwicklung.
Warum machen Profis wie Erzieher und Lehrer da mit?
Die merken gar nicht, dass diese Kinder gestört sind - weil sie die Kinder eben nicht mehr fordern. In den Grundschulen sitzen heute mehrheitlich Schüler, die sich nicht auf den Lehrer einstellen. Aber das gilt gar nicht als Problem! Die Grundschullehrer haben sich daran gewöhnt, einfache Aufträge mehrfach zu geben. Wenn die sagen, holt die Bücher raus, müssen Sie mal gucken, wie wenige Kinder das noch tun. Im Beruf werden die Defizite unübersehbar, weil die Messlatte, die man zum Arbeiten auf der psychischen Seite braucht, nicht verschoben werden kann.
Was bedeutet das für die Gesellschaft?
Auf uns kommt eine Jugend zu, die nur lustorientiert vor sich hin lebt, nichts einbringt, nur kostet. 2004 waren 20 Prozent der Heranwachsenden nicht arbeitsfähig, und wenn Sie mich fragen, werden die ihr ganzes Leben nicht arbeiten können und auch als Erwachsene bedürftig sein. Aber einbringen werden sie nichts. Das ist eine tickende Zeitbombe.
Der soziale Frieden ist in Gefahr?
Meine Sorge ist, dass wir die Jungen hassen werden. Wir ackern wie verrückt und sagen, die schmarotzen nur. Aber letztlich haben sie nicht entschieden, nicht zu arbeiten, sondern können das gar nicht. Wir nehmen unserem Nachwuchs die Chance auf Entwicklung. Und bekommen eine Generation, die bei bester Intelligenz nichts mehr überblickt. Weil sie nur im Hier und Jetzt lebt.
Ist da die Politik gefragt?
Ich wünschte mir, dass man nicht weiter lauter neue Dinge erfindet, die das Problem kaschieren. 'Berufsgrundschuljahr' und was nicht alles. Man müsste innehalten und fragen, warum brauchen wir das heute? Das ist nicht erklärbar mit Migranten und Patchworkfamilien. Diese Beziehungsstörungen betreffen uns alle, das muss sich jeder bewusst machen. Das ist die Chance auf Veränderung.
Das Interview führte Tanja Samrotzki. Sie arbeitet für N 24 in Berlin und schreibt für "Die Zeit".
Der Kinderpsychiater Dr. Michael Winterhoff diagnostiziert bei Zweidritteln der Grundschüler eine moderne Form der psychischen Unreife. In seinem Buch "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" zeigt er, wie ein partnerschaftlicher Erziehungsstil Kinder überfordert und ihnen die Entwicklung zu gesellschaftsfähigen Erwachsenen verwehrt.