Elitenbildung
Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf eine Privatschule. Kritiker sehen dadurch den gesellschaftlichen Zusammenhalt ausgehebelt
Eigentlich wollten Silvia Sebastian und ihre Mitstreiter ganz klein anfangen: Eine einzige erste Klasse, 20 Kinder. Doch dann begann der Sturm auf die Plätze: Die erste Klasse war mit 24 Kindern sofort voll, auch eine zweite und eine dritte Klasse wurden schon im ersten Jahr eingerichtet. "Wir wurden von dem Ansturm völlig überrollt", sagt Sebastian. Die Initiatoren der "Schule Eins", einer privaten Grundschule in Berlin-Pankow, hatten einen Nerv getroffen.
Jede Woche werden in Deutschland ein bis zwei neue Privatschulen gegründet. Absolut betrachtet ist ihre Zahl immer noch gering, nur einer von vierzehn Schülern geht nicht auf eine vom Staat geführte allgemeinbildende Schule. Die Kurve aber weist steil nach oben: Seit Anfang der 1990er-Jahre ist die Zahl der Privatschulen im Land um fast 50 Prozent gestiegen.
"Die Ergebnisse der ersten Pisa-Studie haben die Eltern enorm verunsichert", sagt der Frankfurter Bildungsforscher Manfred Weiß. Das um so mehr, als ihnen von Politikern wie Wirtschaftsbossen immer wieder eingetrichtert wird, dass nichts so sehr über den späteren beruflichen Erfolg ihrer Kinder entscheidet wie Bildung. Viele Eltern von Vier- oder Fünfjährigen sind entsprechend schockiert, wenn sie 20 oder 30 Jahre nach ihrer eigenen Grundschulzeit plötzlich an dem Ort stehen, den ihnen der Staat für die Ausbildung des eigenen Nachwuchses zugewiesen hat: Hier bröckelt der Putz von den Wänden, dort hört man von frustrierten Lehrern. Also machen sie sich auf die Suche nach Alternativen.
Die neuen Schulen sind so unterschiedlich wie ihre Gründer: Die einen legen Wert auf Zweisprachigkeit und Spitzenleistung, andere setzen auf Reformpädagogik, wieder andere auf die Vermittlung christlicher Werte. "Es ist toll, dass an unserer Schule der Glaube so aktiv gelebt wird, mit regelmäßigem Beten und Schulandachten zum Beispiel", sagt etwa Anne Borucki-Voß, deren Sohn Tobias eine evangelische Grundschule besucht. Die Schule liegt im Trend: 80 Prozent der Privatschulen in Deutschland haben einen kirchlichen Träger.
Nicht, dass plötzlich ein ganzes Land seine christlichen Wurzeln wieder entdeckt hätte. Vielmehr bieten die Kirchen verzweifelten Eltern zwei handfeste Vorteile: Sie sind vom Staat als Träger von Kindergärten und Schulen anerkannt und werden vergleichsweise schnell und unbürokratisch gefördert. Und sie stehen für Werte, die selbst vielen kirchenfernen Eltern wichtig sind: Wird mein Kind in der Schule als Individuum wahrgenommen oder ist es nur eine Nummer unter vielen? Werden seine Talente erkannt und entsprechend gefördert?
Um Werte wie diese geht es auch Tanja Samrotzki, die derzeit gemeinsam mit anderen Eltern eine katholische Grundschule im Berliner Norden gründet. Sie verzweifelte an den Zuständen, die an der öffentlichen Grundschule ihres Sohns Quinten herrschen. Besonders schlimm seien die Nachmittage im Hort: "Die Kinder werden dort weder liebevoll betreut noch gefördert - sie werden verwahrt", klagt die zweifache Mutter. Für alles fehlten Personal, Zeit und Geld. Auch der achtjährige Maxim Fabricius hat diese Schule besucht. Von Anfang an, erzählt seine Mutter Malgorzata Fabricius, ging er nicht gerne hin. "Ich hatte das Gefühl, den Kindern würden die Flügel abgeschnitten", sagt die Heilpraktikerin. Ein Jahr lang hat sie sich das angesehen. Nun geht Maxim in die "Schule Eins" - und ist glücklich. Dort werde er mit seinen Stärken und Schwächen wahrgenommen und viel gelobt. Er sei selbstbewusst und fröhlich, die ganze Familie zufriedener.
Die Privaten - egal mit welchem Schwerpunkt - füllen eine Lücke im System. Sie werben mit engagierten Lehrern, individuellen Konzepten und vielen Aktivitäten. Natürlich finden sich auch im öffentlichen Schulwesen hoch motivierte Lehrkräfte - der Geist an den Privatschulen aber ist nach dem Gefühl vieler Eltern ein anderer: Sie werden gefragt, geradezu aufgefordert mitzuarbeiten. Sie fühlen sich ernstgenommen und engagieren sich gern.
Zufriedenheit aber hat ihren Preis: Privatschulen sind teuer. An konfessionellen Schulen liegt der durchschnittliche Monatsbeitrag der Eltern noch bei 50 Euro. Marktwirtschaftlich orientierte Einrichtungen wie die Phorms-Schulen, deren Name sich aus den Wörtern "Form" und "Metamorphosen" zusammensetzt, nehmen je nach Einkommen zwischen 150 und 850 Euro im Monat.
Dafür sind bei Phorms die Tafeln in den Klassenzimmern abgeschafft. Julian, Lea und Finn aus der ersten Klasse werden hier mit modernen Smart Boards unterrichtet. Das sind große Computerbildschirme, an denen sie die Multiplikation per Fingerzeig auf den Touchscreen lernen. Gesprochen wird hier konsequent Englisch. Probleme nennt man hier Herausforderungen, der Glaube an den eigenen Erfolg wird großgeschrieben. Auch hier zeigt sich: Die Schulgründer - eine ehemalige Unternehmensberaterin und ein Biotech-Unternehmer - hatten einen guten Riecher. Trotz der hohen Elternbeiträge sind die Anmeldelisten lang.
Dass hier eine neue Elite herangezogen wird, lässt die Phorms-Vorstandsvorsitzende Béa Beste nicht gelten: "Ich will nur die Elite im Herzen", sagt sie. Beste wünscht sich für ihre Schulen in Berlin, Frankfurt, Köln und München eine "gesunde soziale Mischung". Wenn die Schulen erstmal richtig liefen, könne man die Beiträge für sozial Schwache senken, sagt sie.
Tatsächlich lehnen viele Eltern den Begriff der Elitenbildung ab, und tatsächlich sind Eigenschaften wie Toleranz und Demokratiefähigkeit an vielen Privatschulen neben Mathe und Deutsch gleichberechtigte Lernziele. Tatsache ist jedoch ebenso, dass es vor allem die gebildete Mittelschicht ist, die sich vom Staat und seinen Angeboten abwendet und private Schulen gründet. Toleranz ist hier vor allem Toleranz unter Gleichen, gesellschaftliche Probleme werden mehr unbewusst als bewusst ausgeblendet.
"Da werden Schulen gegründet, um eine bestimmte Klientel zu bedienen", kritisiert auch Bildungsforscher Weiß. Oft sei der Gang auf eine Privatschule eine Fluchtstrategie für Eltern, die sich das leisten könnten. "Das sollte aber keine gesellschaftliche Strategie werden", warnt er. Denn das Prinzip des gemeinsamen Lernens werde dadurch ausgehebelt - und damit letztlich der Zusammenhalt in der Gesellschaft.
Ob Privatschulen wirklich besser sind als ihre staatlichen Konkurrenten, ist wissenschaftlich noch nicht erwiesen. So hat Weiß das Leistungsniveau von 15-Jährigen in privaten und staatlichen Realschulen und Gymnasien untersucht. Ergebnis: Die Schüler der privaten Realschulen konnten besser lesen. Beim Vergleich der Gymnasiasten lagen ihre Altersgenossen von den staatlichen Schulen in Mathematik und Naturwissenschaften leicht vorn.
Eltern wollen ihren Kindern in der globalisierten Welt die bestmögliche Ausbildung mitgeben, sagt Julia Schier vom Bundesverband Deutscher Privatschulen (VDP). Viele hätten das Gefühl, die staatlichen Schulen reagierten nicht flexibel genug auf veränderte Anforderungen. Dass die Kinder etwa ihre Neugier behalten und Schule nicht nur ein Ort der reinen Wissensvermittlung ist. Dabei dürfe gute Bildung eigentlich keine Frage des Geldes sein, so Schier weiter. Und fordert im Umkehrschluss die bessere staatliche Förderung der privaten Schulen. Denn die bekommen je nach Bundesland nur bis zu zwei Drittel ihrer Kosten vom Staat - den Rest müssen sie selber aufbringen.
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin, unter anderem für die Deutsche Welle.