Deutsch-polnisches verhältnis
Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin
Selbst unter Fachleuten in Deutschland ist die seit dem Jahr 2006 bestehende Einrichtung kaum bekannt: das Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Seine Entsprechung hat das Zentrum im bereits seit 15 Jahren bestehenden Deutschen Historischen Institut in Warschau. Beide Institute verfolgen das Ziel, das Wissen über den jeweiligen Nachbarn zu erweitern.
In diesem Jahr erschien die erste Ausgabe des Jahrbuchs des Zentrums, in dem sehr deutlich Polens Präsident Lech Kaczynski seine Hand in die "deutsche Wunde" legt: "Wenn wir über die Bedeutung sprechen, die der Dialog zwischen Polen und Deutschen für das heutige Europa hat, wird mitunter das Problem übersehen, das in der Unkenntnis der polnischen Geschichte und Kultur besteht." Dies gilt für große Teile der deutschen Bevölkerung, für die Polen nach wie vor ein weißer Fleck auf der Landkarte ist. Umgekehrt sieht es anders aus: Das beweisen, meint Gesine Schwan, die 2,5 Millionen polnischen Schüler, die Deutsch lernen gegenüber 20.000 deutschen Schülern, die Polnisch lernen. Das Erlernen einer Fremdsprache ist jedoch umso wichtiger als es eng mit Landeskunde und Literatur des betreffenden Landes verbunden ist.
Der Titel des Jahrbuches trägt den zunächst seltsam anmutenden Titel "Historie". Robert Traba, Direktor des Zentrums und polnischer Leiter der deutsch-polnischen Schulbuchkommission, begründet das mit dem Werk Friedrich Nietzsches "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben". Dies soll eingelöst werden durch Texte von 27 renommierten deutschen und polnischen Historikern zum Leitthema "Zweiter Weltkrieg und seine Folgen". Diese Problematik in ihrer Vielschichtigkeit ist nach wie vor aktuell bei vielen Menschen in beiden Ländern. Als bekannte polnische Autoren sind neben Traba unter anderen Basil Kerski, Chefredakteur des deutsch-polnischen Magazins "Dialog", und Krzysztof Ruchniewicz. Auf deutscher Seite sind zu nennen Gesine Schwan, Hans Jürgen Bömelburg, Fachmann für ostgeuropäische Geschichte an der Universtät Gießen, und Andreas Nachama, langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Auf die Statements von Kaczynski, Richard von Weizsäcker und Wladyslaw Bartoszewski zur Eröffnung des Zentrums im Jahr 2006 folgen Überblicksreferate über den Stand der polnischen Historiografie zu Beginn des 21. Jahrhunderts, um deutschen Lesern eine Grundlage zu geben über den Wandel der polnischen Geschichtswissenschaft seit der Wende. Das erscheint besonders wichtig, weil man immer noch beobachten muss, dass polnische Geschichtsschreibung als Instrument polnischer Außenpolitik gesehen wird. Themen wie Grenzanerkennung, Nato- und EU-Beitritt, Schengenraum, aber auch die Verantwortung Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges werden erst zögerlich in die eigene Beurteilung einbezogen. Der Verlust der Ostgebiete belastet in Deutschland immer noch viele Menschen, ohne die Ursachen zu hinterfragen. Deshalb haben Beiträge über Geschichte und Geschichtspolitik, über Bevölkerungsverluste in Deutschland und in Polen während des Krieges und die Erinnerungen von Deutschen und Polen ein besonderes Gewicht für die eigene Information und Urteilsbildung.
Dazu zählt auch die deutsche und polnische Auseinandersetzung über Flucht und Vertreibung und den Naziterror. Hier sieht Andreas Nachama eine große Verantwortung der jetzt Lebenden, den nächsten Generationen zu dokumentieren, wohin Intoleranz, Überheblichkeit und Menschenverachtung führen. In dieser Aufgabe besitzt das deutsch-polnische Verhältnis eine Schlüsselrolle.
Überblickt man alle Beiträge, so lautet das Fazit: Fas Jahrbuch bietet Problemorientierung mit einer Fülle an unterschiedlichsten Sichtweisen in bemerkenswerter Breite und Tiefe.
Budrich UniPress, Leverkusen 2008; 252 S., 19,90 ¤