Ausbildung
Selbst die Chancen von Altbewerbern steigen. Doch reicht ihre Ausbildungsreife?
Wer hätte das vor ein paar Jahren gedacht: Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt entspannt sich. Die Zahl der Bewerber sinkt, während die Zahl der Lehrstellen steigt: Rechnerisch kommen zurzeit 17 Bewerber auf zehn freie Stellen. Nach den aktuellen Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) boten die Unternehmen von Oktober 2007 bis Juli 2008 insgesamt 445.000 Ausbildungsplätze an - ein Plus von vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Gleichzeitig sank die Bewerberzahl um 16 Prozent auf 575.200. Im Juli waren laut BA 112.900 Lehrstellen unbesetzt und 190.900 Bewerber noch unversorgt. Das waren 19 Prozent weniger als im Vorjahr. Allein bei den Industrie- und Handelskammern (IHK) wurden nach Angaben der Dachorganisation bis Ende Juli knapp 246.000 neue Ausbildungsverträge registriert, 6,9 Prozent mehr als im Vorjahr. Also alles in Butter?
Während der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) eine "deutliche Verbesserung" ausmacht, winkt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ab. Von Entwarnung auf dem Ausbildungsstellenmarkt könne "keine Rede sein", betonte kürzlich die Vizevorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Ingrid Sehrbrock. Ihr sind vor allem die Altbewerber ein Dorn im Auge, also Jugendliche, die sich mindestens ein Jahr lang erfolglos um eine Lehrstelle bemühen. Ihre Zahl lag 2007 bei rund 385.000. Dem Problem soll nach dem Willen von Bundestag und Bundesrat nun mit einem Ausbildungsbonus begegnet werden. Unternehmen können seit Juli einen Zuschuss beantragen, wenn sie leistungsschwache Jugendliche zusätzlich ausbilden.
385.000 Altbewerber, das ist so viel, wie Wuppertal allein oder wie Mainz und Kassel zusammen an Einwohnern haben. Allerdings ist auch hier Licht am Ende des Tunnels zu sehen. BA-Sprecherin Ilona Mirtschin erläutert im Gespräch mit "Das Parlament", im Juli habe es noch 229.300 Altbewerber gegeben. Das sind gut 155.000 weniger als im Jahr 2007. Dies bedeute aber nicht, dass diese jungen Leute nun alle eine betriebliche Ausbildungsstelle gefunden hätten. Vielmehr seien viele in außerbetriebliche Ausbildungen oder - aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters - ohne Lehre in Jobs vermittelt worden. Unter den im Juli unversorgten 190.900 Jugendlichen stellten, erklärt Mirtschin, die Altbewerber das Gros, nämlich 104.600. Zu diesen zählen oftmals Schulabbrecher und Jugendliche mit Migrationshintergrund.
Wie genau funktioniert nun der Ausbildungsbonus, mit dem bis zum Jahr 2010 rund 100.000 neue Lehrstellen für diese Problemfälle entstehen sollen? Um den Ausbildungsbonus zu bekommen, muss der Arbeitgeber nachweisen, dass der Ausbildungsplatz zusätzlich angeboten wird. Zusätzlich heißt, dass die neue Lehrstelle dazu führt, dass die aktuelle Zahl der Lehrlinge über dem Durchschnitt der vergangenen drei Jahre liegt. Die Zusätzlichkeit muss von der zuständigen Kammer schriftlich bestätigt werden.
Der Ausbildungsbonus beträgt 4.000, 5.000 oder 6.000 Euro pro Lehrstelle. Abhängig ist der Betrag von der für das erste Ausbildungsjahr tariflich vereinbarten oder ortsüblichen Ausbildungsvergütung. Der Bonus wird gewährt, wenn der eingestellte Jugendliche die Schule mindestens bereits im Vorjahr verlassen hat, keinen Abschluss oder einen Hauptschul- beziehungsweise Sonderschulabschluss besitzt und sich schon früher um einen Ausbildungsplatz bemüht hat. Realschüler mit schlechten Noten in Mathe und Deutsch können im Einzelfall ebenfalls berücksichtigt werden. Ferner gehören Jugendliche, die ihre Lehrstelle aufgrund einer Insolvenz verloren haben, zu den Förderberechtigten. Bei behinderten Jugendlichen erhöht sich der Zuschuss um 30 Prozent.
Im Haushalt der BA schlägt der Ausbildungsbonus laut Regierung mit 450 Millionen Euro zu Buche. Doch an dieser Kalkulation gibt es bereits deutliche Zweifel. So hält es etwa der Vorsitzende des BA-Verwaltungsrates, Peter Clever, für möglich, dass sich die Kosten bis zum Ende der Förderung im Jahr 2010 auf 1 Milliarde Euro belaufen werden. Ein Kostentreiber könnte sein, dass auch Betriebe den Bonus einstreichen dürfen, die erstmals Lehrlinge einstellen. Ein klassischer Mitnahmeeffekt also, vor dem Arbeitgeber und Gewerkschaften bereits im parlamentarischen Verfahren gewarnt haben - trotz einiger Nachbesserungen am ursprünglichen Gesetzentwurf.
Für die Sorgenkinder hat sich die Politik zudem ein Modellprojekt ausgedacht. An 1.000 Schulen sollen so genannte Berufseinstiegsbegleiter Schüler beim Übergang in die Ausbildung unterstützen. Das soll Berufsorientierung genauso beinhalten wie Bewerbungstraining. Zusatzkosten bei der BA: rund 240 Millionen Euro.
Ob die Maßnahmen greifen, ist umstritten. Nach einer Betriebsbefragung des Bundesinstituts für Berufsbildung kommt es für die Hälfte der Unternehmen nicht in Betracht, aufgrund des Bonus zusätzliche Lehrstellen zu schaffen. Nur jeder sechste befragte Betrieb kann sich dies vorstellen.
Mehr als jeder zweite Betrieb sieht laut einer Umfrage des DIHK in der mangelnden Ausbildungsreife von Schulabgängern das größte Ausbildungshemmnis. Es fehlt aus Sicht der Unternehmen an elementaren Rechtschreib- und Rechenfertigkeiten, aber auch an Tugenden wie Fleiß und Pünktlichkeit. "Was die Schule nicht leistet, kann man hinterher nur schwer reparieren", sagt DIHK-Sprecherin Ute Brüssel. Laut DIHK-Ausbildungsumfrage 2008 konnten bereits im vorigen Jahr 15 Prozent der Unternehmen ihre Lehrstellen nicht besetzen. Und BA-Ex- pertin Mirtschin ergänzt, in diesem Jahr gebe es in zahlreichen Branchen mehr freie Stellen als Bewerber: bei den Gebäude- und Textilreinigern, den Berufskraftfahrern, Kunststoffverarbeitern und Fleischern, aber auch bei den Bank- und Versicherungskaufleuten, den Werkzeugmechanikern und Hotel- und Restaurantfachleuten.
Die Chancen der Altbewerber dürften sich in den nächsten Jahren weiter verbessern. Dazu trägt vor allem der demografische Wandel bei. Im Osten Deutschlands ist das schon jetzt zu beobachten. Die Zahl der Schulabgänger sinkt in Folge des Geburtenrückgangs - laut DIHK werden 2008 noch 940.000 Jugendliche die Schule verlassen, 34.000 weniger als im Vorjahr - davon minus 12,3 Prozent im Osten und minus 1,4 Prozent im Westen. Nach einer Prognose der Kultusministerkonferenz bis zum Jahr 2020 sinkt der aktuelle Wert auf 780.800, davon im Westen um rund zwölf und im Osten um 40 Prozent. Aus Sicht des DIHK ist Bildung der Schlüssel bei der Lösung der demografischen Herausforderung und beim Schließen der Qualitätslücken der Bewerber: Ein richtiger Schritt wäre, so Brüssel, "trotz sinkender Schülerzahlen die Ausgaben für die Schulen nicht zu kürzen".