FELIX RAUNER
Der Bildungsforscher plädiert für eine breiter angelegte duale Ausbildung und Praxisklassen an Schulen
Zum Beginn des Ausbildungsjahres im September wird erwartet, dass es erstmals mehr Plätze geben wird als Bewerber. Erleben wir das Ende der Ausbildungsmisere?
Wenn davon die Rede ist, dass mehr Plätze zur Verfügung stehen als Bewerber, dann bezieht sich das lediglich auf die Bewerber dieses Jahrgangs. Da aber aus der Zeit vorher etwa 360.000 Altbewerber weiterhin auf einen echten Ausbildungsplatz warten, haben wir nach wie vor ein gravierendes Problem.
Schon klagen Betriebe, dass sie nicht genug Nachwuchs finden. Beginnt der Fachkräftemangel jetzt bereits in der Ausbildung?
Die Ausbildungsquote ist in der Tat zu niedrig, um die Fachkräfte zu ersetzen, die aus dem Beruf ausscheiden. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist das nicht sonderlich aufgefallen, aber bei zurückgehender Arbeitslosigkeit wird der Mangel deutlich: Wir müssen mehr ausbilden, nicht nur um der Jugendlichen willen, sondern weil die Unternehmen Fachkräfte brauchen, erst recht, wenn sie innovativ sein wollen.
Mit dem Ausbildungsbonus will die Bundesregierung Betriebe dafür belohnen, auch schwächere Schüler auszubilden. Ist das ein guter Weg?
In einer Umfrage des DIHK haben 85 Prozent der Betriebe gesagt, das interessiert uns nicht, wir legen Wert auf Ausbildungsreife. Gleichzeitig wissen die Unternehmer auch, dass sie in Zukunft verstärkt auf die Schwächeren zurückgreifen müssen. Dabei wäre ihnen aber eine Unterstützung durch Schulen und Sozialpädagogen lieber als der Bonus. Aus meiner Sicht kann ich nur hinzufügen: Betriebliche Berufsausbildung zu subventionieren ist weder notwendig noch sinnvoll, weil man das Image verstärken würde, dass die betriebliche Ausbildung eine sozialpolitische Veranstaltung ist!
Was meinen Sie damit?
Die politische Diskussion um die Berufsausbildung war in den vergangenen Jahren geprägt von Schlagworten wie "Versorgungslücke". Arbeitgeber, Gewerkschaften und Politiker stritten um die Fragen: "Wie versorgen wir die Jugendlichen mit Ausbildungsplätzen? Wie überreden wir die Betriebe, dass sie ihrer Ausbildungspflichtung nachkommen?" Dies ist Ausdruck eines großen Missverständnisses, nämlich dass es sich bei der beruflichen Bildung primär um eine sozialpolitische Veranstaltung handelt. In Wahrheit geht es aber um eine der wichtigsten innovationspolitischen Fragen, mit der es die Bundesrepublik zu tun hat im internationalen Qualitätswettbewerb!
Und da hilft es nicht, wenn der Staat die Unternehmen bei der Ausbildung Schwächerer finanziell unterstützt?
Sehen Sie sich Österreich an. Dort ging die Einführung eines Bonussystems einher mit dem Niedergang der dualen Berufsausbildung. Der Ausbildungsbonus schwächt das Image der dualen Berufsausbildung, nach dem Motto: "Das ist etwas für schwache Schüler, die zu dumm sind, aufs Gymnasium zu gehen, und für schwache Betriebe, die subventioniert werden müssen." Die duale Berufsausbildung muss aber wieder attraktiver werden, vor allem angesichts der rückläufigen Schülerzahlen. Die Schweiz hat das vorgemacht. Dort bietet mittlerweile die duale Berufsausbildung einen gleichwertigen Zugang zum Hochschulstudium.
Das funktioniert aber nur, wenn die Jugendlichen auch die nötige Ausbildungsreife haben. Die Übrigen kann man ja nicht hinten runterfallen lassen.
Natürlich nicht. Aber zu sagen: Wir passen die Berufsbildungsstrukturen an die in Deutschland relativ große Gruppe der Leis-tungsschwachen an, indem die Qualitätsstandards in der Berufsausbildung abgesenkt werden, wäre die falsche Strategie, weil sie damit die problematischen Verhältnisse zementieren und natürlich ökonomischen Schaden anrichten. Man muss alles daransetzen, dass man die Pisa-Risikogruppe wieder weg bekommt. Ein wichtiger Punkt dabei ist in meinen Augen eine entwickelte Berufsorientierung. Und dazu brauchen wir eine neue Bildungskultur, bei der alle Beteiligten zusammenarbeiten.
Wie könnte so eine Zusammenarbeit denn aussehen?
Berufsorientierung muss von Anfang an in das Bildungssystem integriert werden, so dass ein Jugendlicher spätestens am Ende der achten Klasse weiß, wofür er sich interessiert, welche Ausbildungschancen es in der Region gibt und was er mit einem Beruf erreichen kann. Es wäre klug, wenn alle Jugendlichen, die sich entschlossen haben, eine berufliche Bildung zu absolvieren, das letzte Jahr der Sekundarstufe I nutzten, an zwei Tagen der Woche mit ihrer Berufsausbildung zu beginnen.
Zwei Tage die Woche gingen die Schüler nicht in die Schule, sondern in einen Betrieb?
Genau. Und diese zwei Tage des Einstiegs in die Berufsausbildung als Schüler könnte man zugleich als eine ganz wichtige Dimension des Abschlusses der Sekundarstufe I ausgestalten. Damit hätte der Schüler in der fünften Klasse eine ganz andere Motivation zu lernen. Dann wird er sich zielstrebiger um einen möglichst guten Schulabschluss bemühen. Der Betrieb hätte einen großen Vorteil, weil er die Jugendlichen kennen lernt, ohne dass er einen Ausbildungsvertrag schließen müsste.
Und wenn sie nach ihrem Abschluss eine Ausbildung im selben Beruf beginnen, würde den Schülern die Zeit angerechnet.
Davon rate ich ab. Die durch diesen neuen Übergang gewonnene Zeit sollte den Auszubildenden in Form von Zusatzqualifikationen zugutekommen, zum Beispiel für den ausbildungsbegleitenden Erwerb der Fachhochschulreife, berufsbezogene Zertifikate oder auch die Vorbereitung auf die spätere Meisterprüfung. Dieses Übergangsmodell hätte wiederum für die Betriebe viele Vorteile: Die Rentabilität und die Qualität der Ausbildung würden zunehmen, die Abbruchquote würde radikal sinken, weil die Jugendlichen und die Betriebe nach diesem Jahr wissen, ob sie zueinander passen. Und der Staat hätte einen Gewinn dadurch, dass er aus dem so genannten Übergangssystem, treffender sollte man wohl "Maßnahmen- dschungel" sagen, aussteigen könnte, das mittlerweile auf drei Jahre angewachsen ist und Kosten verursacht, die einem dreijährigen Bildungssystem für 1,6 Millionen Teilnehmer entsprechen.
Was passiert in dieser Zeit?
Das ist die Dauer, die ein Jugendlicher heute durchschnittlich in Warteschleifen verbringt oder aus Verlegenheit Berufsfachschulen besucht. Die sind oft zu einer Maßnahme verkommen, weil der überwiegende Teil der Berufsfachschulen nur aufgrund von Schwächen im dualen Berufsbildungssystem und einer zu geringen Attraktivität der Ausbildung aufgebläht wurde. 1970 lag das mittlere Alter, in dem Jugendliche eine Ausbildung begonnen haben, noch bei 16,5 Jahren; heute liegt es bei 20 Jahren. Im internationalen Vergleich bedeutet das, dass ein Jugendlicher in Deutschland mit einer Berufsausbildung beginnt, wenn er in Österreich fertig ist.
In diesem Jahr werden neue Ausbildungsberufe eingeführt, die in zwei Jahren absolviert werden können. Lässt sich so verlorene Zeit aufholen?
Eine zweijährige Ausbildung ist ein Widerspruch in sich. Wenn die Auszubildenden einen modernen, breitbandigen Beruf erlernen, auch berufliche Identität entwickeln sollen, dann ist das unter drei Jahren nicht zu machen. Das ist ungefähr die Hälfte dessen, was ein akademischer Beruf benötigt. Ein Arzt braucht etwa acht Jahre, bis er mit seiner Ausbildung fertig ist. Es sei denn, man will wieder Anlernberufe einführen umd damit das Qualifikationsniveau absenken
Sie sprechen von breitbandigen Berufen. Erfordert das fortschreitende Fachwissen nicht immer mehr Spezialisten?
Wenn Sie auf eine zweijährige Berufsausbildung setzen, dann haben Sie Leute, die die betrieblichen Zusammenhänge nicht verstehen, eine mangelnde berufliche Identität haben, daraus resultiert ein mangelndes Qualitätsbewusstsein, das sich letztlich negativ auf die Produkte auswirkt. Die Entwicklung beruflicher Arbeit folgt generell einem gegengesetzten Trend, nämlich höhere Qualifikationsanforderungen und daher breitbandige Berufe. Das stützt die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und das Identifizierungspotenzial.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein angehender Kaufmann etwa erlernt den Beruf in einem Fitnesszentrum. In der Berufsschule trifft er andere Auszubildende, die lernen den Beruf des Kaufmanns im Reisebüro oder anderswo. Die Kunst ist nun, dass die Schule an den Arbeitserfahrungen aus unterschiedlichen Zusammenhängen anknüpft, das Wissen reflektiert, systematisiert und verallgemeinert und am Ende kommen Kaufleute heraus, die in einer großen Bandbreite von Branchen einsetzbar sind. Das meine ich mit einer modernen Ausbildung. Jemand, der so ausgebildet ist kann später sagen: "Das mit dem Fitnesszentrum war ganz interessant, ich bewerbe mich jetzt in einem Reisebüro." Dann braucht er vielleicht vier Wochen und er kann das auch. Aber wenn Sie mehr als 20 kaufmännische Berufe haben, dann müssen Sie die Leute dauernd umschulen.
Im jüngsten Bildungsbericht steht, die duale Berufsausbildung koste einen Betrieb rund 8.600 Euro pro Auszubildendem und sei die damit teuerste Ausbildungsform. Warum sollte ein Betrieb dann noch ausbilden, wenn nicht aus Fürsorge?
Die Betriebe wissen es besser, sonst würden sie wohl kaum in diesem Umfang ausbilden. Die einschlägige Forschung zeigt, dass die duale Berufsausbildung die mit Abstand kostengünstigste Bildungsform ist. Im Mittel halten sich Ausbildungskosten und Ausbildungserträge etwa die Waage.
Können Sie das belegen?
Sowohl zwei repräsentative Studien in der Schweiz 2004 und 2006 als auch eine repräsentative Studie im Kfz-Gewerbe bei uns zeigen, dass sich die Ausbildung rentiert. Bei einer Studie, die wir in Bremen auf der Basis von über 100 Ausbildungsbetrieben aller Branchen durchgeführt haben, ergab sich ein durchschnittlicher Nettoertrag pro Auszubildendem und Jahr von 600 Euro. Ein weiteres Ergebnis der Studie besagt, dass die Ausbildung sich umso mehr rechnet, je höher die Qualität ist. Das hat einen einfachen Grund: Je enger die Auszubildenden eingebunden sind, desto besser lernen sie - und desto eher können sie mit ihrer Arbeitskraft zum Betriebsergebnis beitragen. Die Betriebe könnten also ruhig stolz darauf sein, dass sie rentabel ausbilden.
Das Interview führte Julian Hans. Er ist Redakteur im Ressort "Chancen" der Wochenzeitung "Die Zeit".