moskau
Europas Boomtown Nummer 1 berauscht sich an Geld und Superlativen
Moskau nähert sich wie ein Wespennest. Auch wenn man nach Mitternacht kommt, im Auto, über die Jaroslawler Chaussee, einen der Hintereingänge der russischen Hauptstadt. Immer mehr Aufblendlichter flammen im Rückspiegel, immer dichter schieben sich wuchtige japanische Karosserien heran. Ein Schwarm von Raubinsekten im Anflug auf ein Ziel, das Schutz bedeuten mag, Beute oder Gefahr. Moskau nähert sich, Europas größte Stadt, aber keineswegs eine europäische Stadt.
Moskau einen Moloch zu nennen, ist banal. 1.081 Quadratkilometer, nicht viel mehr als Berlin, aber mit 10,4 Millionen offiziellen und über 15 Millionen tatsächlichen Einwohnern viermal menschenreicher. Das mittlere Monatseinkommen der Moskauer verdreifachte sich von 2000 bis 2006 auf fast 870 Euro, sie verdienen dreimal so viel wie die Durchschnittsrussen. "Moskau, das ist ein anderes Land", heißt es in ganz Russland, ein Land, dessen Bruttoinlandsprodukt vergangenes Jahr 125 Milliarden Euro erreichte; Steigerungsrate: acht Prozent. In Moskau konzentrieren sich nach Expertenschätzungen 80 Prozent der russischen Finanzen, hier thronen Gasprom und die meisten anderen Rohstoffriesen. Europas Boomtown Nummer eins.
Die Ufer der Moskwa dröhnen und wummern rund um die Uhr. Hunderte Meter hohe Baukräne drehen sich, über denen winzig und weißblaurot russische Trikoloren winken. Unten kreuzen sich die Laufwege tadschikischer Bauarbeiter mit denen der ersten Yuppies, die in die fertiggestellten Bürotürme des neuen Geschäftszentrums Moskwa City streben. In seinen Glasklippen spiegeln sich neue Baugerüste und viel vanilleblauer Himmel. Hier entsteht auch der "Rossija"-Turm, mit 612,2 Metern das höchste Gebäude Europas.
Ganz Moskau ist eine Baustelle, überall wachsen neue Wohnhochhäuser empor, oft mit dem Charme postmoderner, zu lang geratener Mülltonnen. Jährlich werden hier 4,8 Millionen Quadratmeter neuer Wohnraum aus dem Boden gestampft - und zu überteuerten Preisen verkauft. "Elite-" ist das meistgebrauchte Präfix in den Reklamesprüchen der Immobilienbranche. "Ich glaube nicht, dass je ein Nichtmillionär eine Wohnung in einem unserer Häuser gekauft hat", freut sich Maxim Blaschko, Chef der Wohnungsbaufirma Don Stroj. Schon versprechen die Stadtoberen, in zehn Jahren werde der Durchschnittsmoskauer 5.000 Dollar Monatslohn verdienen.
Moskau fühlt sich als Motor und Magen des russischen Wirtschaftswunders. Eine Einzimmerwohnung, 30 U-Bahn-Minuten vom Roten Platz entfernt, die vor vier Jahren noch 40.000 Dollar gekostet hat, wird inzwischen für 180.000 Dollar gehandelt. Schäbige WG-Zimmer in den trostlosesten Randbezirken sind nicht unter 400 Dollar zu mieten. Und das halbe Land träumt den neurussischen Traum vom Wohneigentum in der Hauptstadt.
Hunderttausende jonglieren mit langfristigen Krediten, kaufen sich in Wohnbauprojekte ein. Andere finanzieren damit den Preisunterschied zwischen der Wohnung, die sie in ihrer Heimatstadt verkaufen, und dem Zimmer, das sie in einer Moskauer Etagenwohnung erstehen wollen. Die Glücklichen, die flüssig und couragiert genug gewesen sind, haben schon Wohnraum gekauft, halten ihn und warten, dass die Preise weiter steigen. Fährt man nachts an den "VIP"-Wohntürmen des neuen Moskaus vorbei, sieht man nur wenige Lichter brennen. Moskaus Wohnungsmarkt ist die steilste Finanzpyramide ganz Europas.
Die meisten aber haben nicht das Geld, um zu kaufen, viele von ihnen hoffen auf Beziehungskarrieren. Wie zu Sowjetzeiten verschenken der Kreml und das Rathaus großzügig Wohnungen an Topbeamte, aber auch an Schauspieler oder Weltkriegshelden. "Vielleicht kann ich mich ja mit Luschkow über eine Eigentumswohnung einigen", prahlt Igor, der junge Chefredakteur einer noch jüngeren Internetzeitung, der aus der Provinzstadt Rjasan angereist ist. Bürgermeister Jurij Luschkow gilt als lokaler Jupiter, seine Frau, die Bauunternehmerin Elena Baturina, ist dreifache Dollarmilliardärin und die reichste Frau Russlands. Tausende Geschäftsleute aus allen Branchen, aber auch Architekten, Künstler und Karrieristen mühen sich verzweifelt um die Gunst der Halbgötter, die mit Luschkow zusammen in die Banja gehen: wie etwa sein Schwager, Wladimir Jewtuschenkow, Chef des Mischkonzerns AFG Sistema, dem US-Magazin Forbes zufolge 9 Milliarden Dollar reich, oder der frühere Ikonenhändler Schalva Tschigirinski, jetzt Generalauftragnehmer beim Bau von Moskow City, ebenfalls Dollar-Milliardär. Gute Beziehungen erdrücken an diesem Ort gute Ideen. Die Szene hier besteht aus Läden mit so originellen Namen wie "Vogue Kafe" oder "GQ-Klub". Drinnen knutschen schöne Mädchen mit Jünglingen herum. Die Jünglinge hantieren nebenher mit I-Phones, die Mädchen werfen den Männern an den Nebentischen verräterische Seitenblicke zu: Moskaus goldene Jugend, die Kinder und die kleinen Geschwister der Reichen und Mächtigen - und ihre Groupies. Müßige Millionäre und Milliardäre diktieren Moskau seine Sitten. In den Vitrinen der Einkaufspassagen drängen sich die teuersten Auto- und Modemarken. Ob italienische Schuhe oder französischer Wein, in Moskau kosten sie 60 bis 200 Prozent mehr als in Europa. Es wird in dieser Stadt als höchste Tugend betrachtet, möglichst spektakulär möglichst viel Geld auszugeben. Porsche Cayenne gelten hier als Frauenautos, inländische Schigulis als Schmach. Mangels Nachfrage sind in dieser Stadt weder Smart-Pkw noch preiswerte Qualitätsmode der Firma Gap zu erstehen. Zu klein, zu billig. Der Cappuccino in den Straßencafés kostet umgerechnet 8,50 Euro. Und Sergej Polanskij, Chef der Baufirma Mirax, erklärt die neuen Werte: "Eltern, die ihre Kinder wirklich lieben, schenken ihnen eine Eigentumswohnung in Moskau."
Moskau berauscht sich an den eigenen Quantitäten, seine Bewohner glauben fest, in einer Weltstadt zu leben, mit der bestenfalls noch New York, Tokio und London konkurrieren können.
Tatsächlich ist Moskau eine simple Sozietät. Im Zentrum drängen sich der Kreml, die Ministerien, Museen und Theater, Restaurants und Klubs, eingekreist vom zwölfspurigen Gartenring. Jenseits des Gartenrings aber gibt es keine Stadtteile wie in westlichen Großstädten, die ihr eigenes Leben entwickelt hätten. Egal an welcher U-Bahnstation man aussteigt, draußen erwarten einen die gleichen Firmenschilder: McDonalds, Pizza-Hut, Schokoladniza-Café und Perekrestok-Supermarkt. Oder ein Einkaufszentrum, wo man alles unter einem Dach findet. Oder wie schon die Sowjetrussen sagten: "Moskau ist das größte Dorf der Welt." Ein babylonisches Dorf.
"Sobald du die Wohnungstür aufmachst, endet aller Komfort", räsoniert der Designer Artemij Lebedew. "Im Treppenhaus riecht es nach Urin, der Gehweg ist voller Glasscherben, dein Auto haben sie zugeparkt." Lebedew sagt, es sei gerade dieser Diskomfort, der seine Kreativität anrege. Aber er gibt auch zu, dass er selbst nur nach Mitternacht Auto fährt. Moskau balanciert am Rande des Kollapses. 2,7 Millionen Pkw verstopfen diese Stadt, die Rushhour dauert inzwischen fünf Stunden. Hummer-Jeeps und Mercedes-Geländewagen verkeilen sich in Staus - oder geben Vollgas. Statt in Bandenkriegen wie in den 1990er-Jahren toben sich die Aggressionen und die moralische Orientierungslosigkeit dieser Stadt jetzt im Autoverkehr aus. Die simple Hauptverkehrsregel lautet: "Der Stärkere hat recht." Oder wie es der Schriftsteller Viktor Jerofejew formuliert: "Autofahren ist für uns eine Machtfrage." Rücksichtnahme gilt als Schwäche, jeder Fahrradfahrer als lebensmüde, monatlich sterben 100 Menschen im Verkehr, die Zahl der Blechschäden bleibt ungezählt. Staus fressen inzwischen selbst nachts die Zeit und die Nerven ihrer Opfer, selbst wenn sie in den teuersten Limousinen sitzen. "Es passiert immer öfter, dass Gäste ihre Bestellungen absagen, weil sie im Stau sitzen", stöhnt selbst Arkadij Nowikow, Besitzer des teuersten Restaurants Moskaus.
Auch der Layouter Sergej, 46, lässt seinen verwirklichten Traum, einen silberfarbenen Alfa Romeo, immer häufiger stehen und fährt Metro. "Aber die Waggons Richtung Zentrum sind morgens voll wie Fischkonserven", schimpft Sergej. "Zuerst muss ich vier Stationen stadtauswärts fahren, steige dort um und kriege mit etwas Gequetsche einen Stehplatz." Sergej gehört zu den Moskauer Gewinnern. Nicht nur, weil er Alfa fährt. Vor vier Jahren hat er gleich drei Kredite aufgenommen, um sein Eigentumszimmer gegen eine Dreizimmerwohnung zu tauschen. Die kostete damals 80.000 Dollar, jetzt will er sie für 350.000 Euro verkaufen. "Das reicht", sagt er. Es reicht, um seine Restschulden von 60.000 Dollar zu begleichen. Es reicht außerdem, um eine Einzimmerwohnung zu kaufen, die er vermieten möchte. "Tausend Dollar monatlich bekomme ich dafür immer." Das genüge ihm in Zukunft zum Leben: "Für den Rest des Geldes baue ich mir ein Haus in meinem Heimatdorf bei Kaluga. Und ziehe dorthin. Ich will endlich wieder die Wolken am Himmel sehen." Nirgendwo in Russland lässt sich so leicht Geld verdienen wie in Moskau. Aber ihren Frieden suchen inzwischen auch die Moskauer ganz woanders - außerhalb der Stadt.
Der Autor ist freier Journalist und lebt seit zehn Jahren in Russland.