Machtstruktur
Wer regiert Russland wirklich? Dmitri Medwedew ist für viele Beobachter eine Verlegenheitslösung. Wofür er steht und was er will, ist bis heute offen. Klar ist inzwischen aber, dass er nicht der erste Ansprechpartner ist
Anfang August, als die Welt auf Georgien schaute und Moskau Truppen in das südliche Nachbarland schickte, da fragte sich so mancher in Russland: Wo ist eigentlich Dmitri Medwedew? Während Ministerpräsident Wladimir Putin bereits seinen Besuch bei den Olympischen Spielen abgebrochen hatte und im russischen Nordossetien kriegerische Töne von sich gab, war vom Präsidenten nichts zu hören. Erst nach mehreren Tagen trat Medwedew auf den Plan - um gemeinsam mit seinem französischen Kollegen Nicolas Sarkozy einen "Friedensplan" abzunicken.
Vordergründig schien hier das Prinzip des "guten" und des "bösen Polizisten" verfolgt zu werden. In der russischen Öffentlichkeit aber kam vor allem an, dass es Putin ist, der weiterhin das Sagen hat - obgleich der von ihm ausgesuchte Staatschef formal über dem Premier steht.
Auch in der EU setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass Medwedew nicht der erste Ansprechpartner ist - und es vermutlich auch nicht werden wird. Noch kurz nach der Wahl Anfang März hatte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) in einer Rede Medwedew als Reformer gelobt. Der neue Präsident, so Steinmeier damals, habe sich zur konsequenten Modernisierung seines Landes bekannt und verfolge zudem das Ziel einer erneuerten Partnerschaft mit dem Westen.
Zwar hat der Staatschef bisher in einer Reihe von Interviews und öffentlichen Auftritten diesen Vorstellungen entsprochen. Dass Medwedew allerdings wirklich der große Modernisierer ist und dass er die Spielräume hat, seine Pläne in die Tat umzusetzen, wird auch in Moskau zunehmend bezweifelt. Einen tiefen Kratzer erhielt sein Bild Ende Juli, als Putin den privaten Stahlkonzern Mechel öffentlich scharf kritisierte und damit dessen Börsenkurs in den Keller schickte. Auch in diesem Fall war von Medwedew tagelang nichts zu hören.
Es halten sich hartnäckig drei Theorien über die Rolle Medwedews. Die erste besagt, sein Vorgänger Wladimir Putin habe ihn als Platzhalter ausgesucht, um dem Westen ein freundlicheres Gesicht zu präsentieren und auf diese Weise die russische Expansion auf den Weltmärkten abzusichern. Die Vertreter der zweiten sehen in Medwedew den Reformer, der allerdings mit Widerständen in den Geheimdiensten und in der Fraktion der Staatsgläubigen zu kämpfen hat. Die dritte Theorie beschreibt den Neuen im Kreml als Verlegenheitslösung: Putin habe sich früh darauf festgelegt, nicht mehr für das Präsidentenamt zu kandidieren und sei daher unter Druck geraten, einen Nachfolger zu benennen. Herauskam Medwedew, als kleinster gemeinsamer Nenner. Es spricht immer mehr für diesen dritten Ansatz.
Bisher ist wenig geschehen, was darauf schließen ließe, dass der neue Präsident von dem Kurs seines Vorgängers wesentlich abweichen wird. Putin hat die Macht des Zentrums entscheidend gestärkt. Unter anderem wurde die Direktwahl der Gouverneure abgeschafft. Die Staatsduma wurde in ihrer Funktion darauf reduziert, die Entschei- dungen des Kremls abzusegnen und durch öffentliche Äußerungen einiger Abgeordneter in der Bevölkerung vorzubereiten. Die Wirtschaft des Landes, nicht nur der Energiesektor, geriet zunehmend unter den Einfluss des Staates. Die Justiz ist nach wie vor nicht unabhängig und die Korruption nahm nach Berichten der Weltbank und der Nichtregierungsorganisation Transparency International deutlich zu.
Um aus Russland einen funktionierenden Rechtsstaat zu machen, müsste Medwedew gegen diese Entwicklungen vorgehen. Doch davon ist bisher wenig zu sehen. Als einige Gouverneure vorsichtig eine Rückkehr zur Direktwahl und damit zu mehr Eigenverantwortung der Regionen forderten, verlief der Vorstoß im Sand. Und der Entwurf eines staatlichen Plans für den Kampf gegen die Korruption stößt bei den Experten auf große Skepsis. Nach Ansicht des Politologen Georgi Satarow durchdringt das System der Bestechungen den gesamten Staatsapparat - weshalb die Behörden nicht in der Lage seien, selbst dagegen vorzugehen.
Auch personell ist nicht zu erkennen, dass Medwedew die Absicht hat, neue Wege zu gehen. Ein Großteil der alten Kremlführung wechselte in die Regierungsmannschaft Putins. Der Präsident hingegen blieb bisher weitgehend ohne eigene Hausmacht und muss im Kreml mit etlichen Putin-Getreuen auskommen - an vorderster Stelle mit dem Leiter der Präsidialadministration Sergej Naryschkin und seinem ersten Stellvertreter Wladislaw Surkow.
Die stärksten innenpolitischen Signale gingen bisher von Putin aus, als er ein ambitioniertes Wirtschaftsprogramm vorstellte und Medwedew kurz nach dessen Amtseinführung in den Schatten stellte. Von Konflikten zwischen beiden ist wenig bekannt geworden, was auch daran liegen mag, dass die Wirtschaft sich infolge beständig steigender Ölpreise immer noch gut entwickelt.
Allerdings mehren sich negative Signale, die für den neuen Präsidenten zum Problem werden könnten. Zum einen ist es nicht gelungen, die seit 2007 stark zunehmende Inflation in den Griff zu bekommen, ein Phänomen, mit dem auch andere osteuropäische Staaten zu kämpfen haben. Zum anderen stagniert die Produktion der wichtigsten Exportgüter Öl und Erdgas, was angesichts der steigenden Nachfrage schon bald zu einer Versorgungslücke führen könnte.
Sollte der wachsende Unmut der Menschen über steigende Preise für Nahrungsmittel und Energie zu Protesten führen, dann dürfte die Suche nach einem Sündenbock losgehen. In Putins Amtszeit war es die Regierung, die in derartigen Fällen an den Pranger gestellt wurde - indem der Präsident sie publikumswirksam zum Handeln aufforderte oder zurechtwies. Im neuen System dürfte dies wesentlich schwieriger werden. Putin ist als Regierungschef nur schwer angreifbar und verfügt über eine völlig andere Autorität als seine Vorgänger.
Außenpolitisch ist ein grundlegender Wandel spätestens seit dem Kaukasuskonflikt wohl nur noch eine Illusion. Es ist sogar eher zu erwarten, dass die Intervention in Georgien nicht der letzte Fall gewesen ist, in dem der Kreml sich in den Nachbarländern Russlands massiv einmischt. Als Grund für den Einmarsch wurde unter anderem angegeben, man habe die russische Bevölkerung in den abtrünnigen Gebieten Georgiens schützen müssen. Russische Minderheiten aber gibt es auch in der Ukraine, in Moldawien oder im Baltikum. Der einflussreiche Moskauer Oberbürgermeister Juri Luschkow behauptete bei einem Besuch auf der Krim bereits, die ukrainische Hafenstadt Sewastopol gehöre eigentlich zu Russland - und stellte damit die Grenzen eines Nachbarlandes in Frage.
Noch wichtiger für die EU dürfte jedoch sein, dass auch bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Durchbrüche nicht zu erwarten sind. Die Verhandlungen über ein neues Partnerschaftsabkommen zwischen EU und Russland sind zwar angelaufen, dürften aber nach der Georgienkrise wieder ins Stocken geraten. Und Unterhändler der Welthandelsorganisation berichten, der Kreml zeige wenig Eifer, den seit langem geplanten Beitritt unter Dach und Fach zu bringen.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass Medwedew Zeit braucht, um sich im neuen Amt einzugewöhnen und dann ein Reformprogramm in Angriff nimmt. Die Konstruktion mit einem populären Premier Putin und starken Interessengruppen in Wirtschaft und Politik allerdings macht eine solche Entwicklung eher unwahrscheinlich.
Der Autor ist Osteuroparedakteur der "Financial Times Deutschland".