ZYPERN
Es keimt Hoffnung auf eine Wiedervereinigung - beide Seiten sprechen wieder miteinander
Für Jana und Anna ist es kein gewöhnlicher Spaziergang durch Nikosia. Entlang der Ledra-Straße wollen die zwei griechischen Zyprerinnen, beide Anfang Dreißig, an diesem Tag zur anderen Seite der Stadt - in den türkischen Teil. Ihn können sie nur über Checkpoints mit Ausweiskontrolle betreten. "Wir sind neugierig auf den neuen Übergang", sagt Anna. Dann passieren sie den Ort, der als "Brandenburger Tor Zyperns" gilt, in Richtung der türkischen Kontrollhäuschen.
Seit Jahrzehnten zerschneidet hier im Herzen von Nikosia eine UN-Pufferzone die Hauptstadt der Insel. Stacheldraht, Sandsackbarrikaden und zerschossene Altstadthäuser säumen den Weg der "Green Line". Die Demarkationslinie zieht sich über 180 Kilometer quer durch das Land, wird oft als "letzte Mauer Europas" bezeichnet. Die von ihr durchtrennte Ledra-Straße ist das Symbol der Teilung der Insel in einen griechisch-zyprisch dominierten Süden und einen türkisch besetzten Norden. Jetzt drückt die Flaniermeile zugleich die neue Hoffnung auf eine Wiedervereinigung aus.
Die Führer der beider Volksgruppe nahmen am 3. September direkte Gespräche zur Überwindung der Teilung der Insel auf. Bereits im Vorfeld einigten sich Dimitrios Christofias und Mehmet Ali Talat auf die Öffnung des neuen Übergangs in Nikosia. So unkompliziert dieses Zeichen des Vertrauens Anfang April gesetzt wurde, so schwierig gestalten sich die Verhandlungen zur Gründung eines neuen gemeinsamen Staates mit föderaler Ordnung.
Das machte bereits der formelle Auftakt der Verhandlungen deutlich. Erst nach zwei Stunden traten beide Volksgruppenführer durch die massiven Holztüren des UN-Hauptquartiers in Nikosia. Christofias erklärte mit ernster Miene: "Es gibt den gemeinsamen Willen beider Seiten, so bald wie möglich eine Lösung zu finden." Talat versicherte: "Ankara unterstützt eine Lösung."
Der Führer der Zyperntürken betonte zum Start der Gespräche auch die für seine Seite "herausragende Bedeutung" der Garantieverträge von 1960 für eine Lösung. Auf der Grundlage dieser Abkommen rechtfertigt die Türkei ihre massive militärische Präsenz im Norden der Insel. Aus Sicht der griechischen Zyprer ist das eine kaum nachvollziehbare Auslegung. Deren Argumentation lautet: Das Vertragswerk sehe vor, dass die Garantiemächte der Insel - neben der Türkei auch Griechenland und Großbritannien - mit ihrem Interventionsrecht die Verfassung und Einheit des unabhängigen Zypern schützen. Stattdessen habe die türkische Invasion des Jahres 1974 zur Teilung geführt.
Georgios Iakovou, nach Christofias ranghöchster Unterhändler der griechischen Zyprer, betont: "Wir haben heute eine andere Situation als 1960. Die Sicherheit für Zypern muss künftig allein im Rahmen der Europäischen Union gewährleistet werden." Türkisch-zyprische Politiker hingegen messen der Aufrechterhaltung der Garantieverträge die Bedeutung einer "rote Linie" bei, die nicht überschritten werden dürfe. Zugeständnisse seien hier nicht möglich, unterstreicht der Parlamentarier Ahmet Gulle von Talats links ausgerichteter Regierungspartei RTP. Gulle sagt: "Die türkischen Zyprer haben aus historischen Gründen Angst vor den griechischen Zyprern." Diese seien schließlich in der Überzahl.
Sorgen in Sachen Sicherheit sind auch unter den Zypern-Griechen verbreitet - wegen des türkischen Militärs auf der Insel. Hier liegt einer der Gründe, warum die Mehrheit der griechischen Zyprer den UN-Lösungsvorschlag aus dem Jahr 2004 in einem Referendum durchfallen ließ. Aus ihrer Sicht war der vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan vorgelegte Plan maximalen Forderungen der türkischen Seite nachgekommen. So sollten Ankaras Truppen ein langes Bleiberecht auf Zypern erhalten, obwohl vorangegangene UN-Resolutionen klar deren Abzug fordern. Das Votum der Zypern-Türken zum Annan-Plan fiel positiv aus. Auch die Regierung des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan gab damals grünes Licht für die UN-Initiative. Hieraus versucht Ankara auf internationalem Parkett weiter, politisch Kapital zu schlagen. Die Türkei sitzt mit ihren verschiedenen Machtzentren insgeheim wieder mit am Verhandlungstisch auf Zypern.
Für den türkisch-zyprischen Journalisten Hasan Kafetsioglou ergibt sich da "ein großes Fragezeichen". Der Chefredakteur von Radio May sagt, er glaube zwar an den Willen der Regierung Erdogan, das Zypern-Problem zu lösen. Doch möglicherweise verfolge sie die Strategie, Zypern zunächst "in der Hand zu behalten" - als Instrument für den eigenen EU-Beitrittsprozess.
"Von Christofias erwarten sich die griechischen Zyprer, dass er bessere Bedingungen als jene des Annan-Plans aushandelt. Doch die Aussichten hierfür haben sich verschlechtert", sagt dagegen der griechisch-zyprische Friedensaktivist Nikos Anastasiou. Hinzu komme, dass das türkische Militär im besetzten Teil Zyperns "weiterhin eine bestimmende Funktion hat."
Ankaras Truppen marschierten 1974 in den Norden der Insel infolge eines Putschversuches griechischer Extremisten gegen den Staatspräsidenten Erzbischof Makarios ein. Der von der Athener Junta gelenkte Staatsstreich scheiterte, die Türkei setzte ihre "Operation Attila" fort. Bis heute hält sie mit 42.000 Soldaten rund ein Drittel des 9.251 Quadratkilometer umfassenden Inselterritoriums besetzt. Dort wurde 1983 die "Türkische Republik Nordzypern" ausgerufen. Mehr als 100.000 Siedler aus der Türkei ließen sich in dem international nicht als Staat anerkannten Gebiet nieder. Die Republik Zypern, seit 2004 EU-Mitglied, kontrolliert nur noch den Süden der Insel. Konsequenz: Da Zypern völkerrechtlich weiter eine Einheit ist, gehört auch der Inselnorden zur EU. Das Gemeinschaftsrecht gilt dort allerdings nicht.
"Europa sollte sich in den Prozess der Lösungssuche einbringen", fordert deshalb der griechisch-zyprische Abgeordnete Georgios Varnavas von der oppositionellen sozialdemokratischen Partei EDEK. Varnavas schlägt Beobachter der EU bei den direkten Gesprächen vor.
Ganz anders bewertet der deutsche Bundestagsabgeordnete Dietmar Bartsch (Die Linke) die Situation. Er plädiert: "Zurückhaltung ist angesagt." Bartsch, Vorsitzender der deutsch-zyprischen Parlamentariergruppe im Bundestag, betont, Europa habe zwar eine Verantwortung, aber von einem Eingreifen in die Lösungssuche rate er ab. Dass es auf Zypern erneut Gespräche gibt, "das ist das eigentliche Ereignis. Nach all den Jahren ist das ein wesentlicher Fortschritt."
Die Einschätzung des UN-Sondergesandten und ehemaligen australischen Außenminis-ters Alexander Downer, geht noch weiter. Er sprach am 3. September von einem "historischen Tag" für Zypern. Für den griechisch-zyprischen Parlamentarier Christos Stylianides von der konservativen Oppositionspartei DISY steht fest: "Auf beiden Seiten herrscht das Bewusstsein, dass es sich um die letzte Möglichkeit für eine Lösung handeln könnte."
Der Reformkommunist Christofias sorgte im Februar mit seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl im Süden für neuen Schwung bei den Bemühungen um eine Wiedervereinigung. Auch Talat, zu dem Christofias seit Jahren engen Kontakt pflegt, war mit dem Versprechen der Überwindung der Teilung im Norden an die Macht gekommen.
Die Chancen für eine Wiedervereinigung stehen besser als je zuvor, aber es gibt viele Hindernisse. Einer der größten Brocken: eine Einigung in der Frage der Besitztümer. Dietmar Bartsch mahnt, aus seiner Sicht seien schon bei der deutschen Wiedervereinigung "gehörig Fehler" gemacht worden. Da der Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" gegolten habe, seien Personen restituiert worden, die "völlig beziehungslos" zu den erworbenen Gütern gewesen seien.
Die griechisch-zyprische Seite beruft sich auf die Pinheiro-Prinzipien der UN. Die Vorsitzende der Arbeitsgruppe zu den Besitztümern, Erato Kozakou-Marcoulli, bringt ihren Standpunkt auf eine einfache Formel: "Jeder erhält seinen Besitz zurück und kann damit machen, was er will." Auch eine Entschädigung stehe zur Wahl. Das betrifft vor allem Vertriebene und Flüchtlinge sowie deren Erben. Der türkisch-zyprische RTP-Abgeordnete Gulle sagt indes: "Es ist schwierig, den türkischen Zyprern zu vermitteln: Zieht ein drittes Mal um." Damit verweist er nicht nur auf die Folgen des Krieges von 1974, sondern auch auf die des gewalttätigen interkommunalen Konflikts in den Jahren 1963/64.
Der Bürgerkrieg war nur drei Jahre nach der Gründung der Republik Zypern ausgebrochen. 1960 entließ die Kolonialmacht Großbritannien die Insel in die Unabhängigkeit. Vorangegangen war der fünfjährige Kampf der griechisch-zyprischen Organisation EOKA gegen das Empire. Ihr Ziel: der Anschluss Zyperns an Griechenland. Die Briten, so ein häufiger Vorwurf, spielten daraufhin nach der Maxime "Teile und herrsche" die Volksgruppen gegeneinander aus; und sie erhoben die Türkei zum Machtfaktor in der Zypernfrage.
Das Resultat war ein unabhängiges Zypern mit einer Volksgruppenverfassung. Als problematisch erwiesen sich die parlamentarischen Mechanismen. Die gleichberechtigte, aber mit 18 Prozent zahlenmäßig wesentlich kleinere Volksgruppe der türkischen Zyprer erhielt 30 Prozent der 50 Sitze im Abgeordnetenhaus. Bei vielen Entscheidungen, zum Beispiel der Steuerpolitik, musste in beiden Gruppen der Volksvertreter eine Mehrheit erreicht werden. Demnach konnten acht türkisch-zyprische Parlamentarier für eine Blockade sorgen.
Um solch eine Situation in einem wiedervereinigten Zypern zu vermeiden, sagt der griechisch-zyprische Abgeordnete Andros Kyprianou, Fraktionssprecher von Christofias' Regierungspartei AKEL: "Nach unserer Auffassung sollte es im Parlament keine Entscheidungen nach Volksgruppenzugehörigkeit geben." Im Gegensatz dazu betont der türkisch-zyprische RTP-Abgeordnete Gulle: "Bei Beschlüssen muss es eine Zustimmung in beiden Volksgruppen geben."
Eine lange Suche nach einem für beide Seiten akzeptablen Gesamtmodell für eine Wiedervereinigung steht bevor. Am Ende gibt es in beiden Teilen eine Volksabstimmung. Der türkisch-zyprische Friedensaktivist Sarper Ince ist mit Blick darauf überzeugt: "Die meisten Menschen auf Zypern wollen eine Lösung."