GERHART BAUM
Der ehemalige Bundesinnenminister (FDP) kritisiert Freiheitseinschränkungen im Kampf gegen Kriminalität
Herr Baum, Sie waren selbst Bundesinnenminister und warnen vor der Aufgabe von Bürger- und Freiheitsrechten im Kampf gegen Terrorismus und Verbrechen. Welche Regierung hat denn mehr davon geopfert - die rot-grüne Koalition mit Otto Schily oder die Große Koalition mit Wolfgang Schäuble?
Die innenpolitische Aufrüstung hat schon viel früher, mit der Reaktion auf die Bedrohung der RAF begonnen. Sicher waren damals einige Maßnahmen notwenig, doch manche gingen an die Grenzen des Rechtsstaats. Diese Auswüchse haben wir später korrigiert. Was wir heute erleben, ist so gesehen die Fortsetzung einer vor 30 Jahren begonnenen Entwicklung, Stück für Stück Freiheitsrechte aufzugeben. 1998 ist etwa im Zusammenhang mit einer aufgeregten Diskussion über die Organisierte Kriminalität der "Große Lauschangriff" eingeführt worden, den später das Bundesverfassungsgericht weitgehend wieder aufgehoben hat. Otto Schilys Gesetzespaket war nach dem 11. September als Antwort auf die neuen Herausforderungen in Teilen notwenig, schoss aber weit über das Ziel hinaus. Der unbescholtene Bürger wurde zunehmend durch Einschränkungen seiner Freiheitsrechte Gegenstand staatlicher Maßnahmen. Ob diese wirklich notwendig waren, wurde nicht untersucht.
Schäuble argumentiert aber, dass man noch mehr Handhabe im Kampf gegen den Terrorismus benötigt...
Ja, das ist seine Argumentation. Er strebt eine neue Sicherheitsarchitektur an: Die Bundeswehr soll unter anderem als eine Art Ersatzpolizei durch weitgehende Grundgesetzänderungen in die Bekämpfung von Kriminalität einbezogen werden. Das ist verfassungsrechtlich nicht akzeptabel und zur Verbesserung der Sicherheitslage auch nicht geboten - nimmt man Extremfälle aus, die in letzter Konsequenz bislang noch gar nicht durchdacht worden sind.
Welche der geplanten Instrumente halten Sie für besonders gefährlich? Die Online-Durchsuchung?
Die Online-Durchsuchung ist ein schwerer Eingriff in die Grundrechte - und deshalb vom Bundesverfassungsgericht an enge Voraussetzungen gebunden worden. Doch sie ist nicht der einzige Eingriff. Mit dem neuen BKA-Gesetz bekommt das Bundeskriminalamt äußerst weit reichende, präventive Befugnisse. Es würde zudem grundlegende Prinzipien der Rechtsordnung ändern, die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern - und die Trennung zwischen Polizei und Geheimdienst. Deren Kompetenzen würden vermischt.
Ist die Trennung von Geheimdiensten und Strafverfolgung - eine Reaktion auf den Missbrauch solcher Institutionen im Nationalsozialismus - noch zeitgemäß?
Ganz klar: Ja. Natürlich heißt das nicht, dass man sich nicht um einen Informationsaustausch zwischen Geheimdiensten und Polizei bemühen soll. Das ist notwendig - und war auch schon zu meiner Zeit so. Die Trennung ist begründet in den unterschiedlichen Methoden, mit denen Nachrichtendienst und Polizei vorgehen. Der Nachrichtendienst hat einen viel größeren Spielraum. Er arbeitet im Vorfeld, mit anderen Mitteln und auch ohne an einen konkreten Tatverdacht gebunden zu sein. Die Trennung ist sehr sinnvoll - gerade auch unter Sicherheitsgesichtspunkten.
Beschränkt sich die Tendenz zur Einschränkung von Grundrechten nur auf den Anti-Terror-Kampf oder ist zu befürchten, dass die geforderten neuen Befugnisse auch bei der Bekämpfung von anderen Verbrechen Anwendung finden?
Eine berechtigte Frage. Nehmen wir die Vorratsdatenspeicherung: Heute werden von den Telefonanbietern alle Telekommunikationsdaten ein halbes Jahr lang gespeichert. Diese sollen keineswegs nur zur Terrorismusbekämpfung verwendet werden, sondern auch im Kampf gegen "normale" Kriminalität. Die in den letzten Jahrzehnten entwickelten Instrumente richten sich alle gegen Kriminalität insgesamt.
Worüber eigentlich debattiert wird, ist das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit. Grundsätzlich gefragt: Ist Freiheit ohne Risiken überhaupt denkbar?
Die Zielgröße ist immer die Freiheit. Freiheit und Sicherheit spielen nicht in der gleichen Liga. Kant hat gesagt, dass es zwar in Ordnung ist, wenn Behinderungen der Freiheit beseitigt werden, aber das Ziel muss die Freiheit sein. Das heißt: Die Freiheit setzt auch die Grenze für staatliche Maßnahmen. Der Schutz der Menschenwürde, Artikel 1 in unserer Verfassung, ist in über zehn Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zur Inneren Sicherheit angeführt worden. Das zeigt: Der Zweck rechtfertigt eben nicht jedes Mittel. Es muss immer abgewogen werden, ob der Sicherheitsgewinn überhaupt vorhanden ist. Und wenn er vorhanden ist, ob er eine Freiheitseinschränkung rechtfertigt - oder ob man nicht bestimmte Risiken hinnehmen muss.
Wer sind denn eigentlich Ihre Verbündeten im Kampf um Bürger- und Freiheitsrechte?
Es gibt im Land eine breite Diskussion über die schleichende Erosion der Grundrechte. Die einzelne Maßnahme für sich müsste ja gar nicht so beunruhigend sein. Es ist die Summe der Maßnahmen, denn sie führt in eine Gesellschaft, die von staatlichen Überwachungselementen durchsetzt ist. Verbündete gibt es in der Politik natürlich, und gerade auch beim Bundesverfassungsgericht. Es gibt eine Reihe bemerkenswerter Reden, in denen sich Verfassungsrichter deutlich positioniert haben. So wurde kritisiert, dass wir eine Lust am antizipierten Ausnahmezustand praktizieren! Wir reden uns in Ausnahmezustände hinein, verbreiten Angst und die Bevölkerung reagiert gleichgültig. Das ist ein gefährliches Gemisch: Gift für die Freiheit!
Die Bürger wirken tatsächlich über diese Entwicklungen kaum beunruhigt. Sind die Deutschen Sicherheitsversprechen gegenüber anfälliger als andere Nationen?
Die Deutschen scheinen ein großes Sicherheitsbedürfnis zu haben. Dennoch meine ich, dass die Leute inzwischen sensibler geworden sind. Es gab kürzlich eine große Demonstration gegen die Vorratsdatenspeicherung in Berlin. Auch als ich die Beschwerde gegen die Online-Durchsuchung vorbereitete, bekam ich viel Unterstützung. Generell beobachte ich jedoch, dass sich die Menschen heute viel leichtfertiger offenbaren. Die Schamgrenze ist gesunken, und sie sind sich überhaupt nicht bewusst, dass sie überall Spuren hinterlassen, auch im privaten Bereich. Es geht gar nicht allein um staatliche Überwachung, sondern ganz allgemein um den Missbrauch von Daten. Wir brauchen dringend ein neues Bewusstsein für Datenschutz - und neue gesetzliche Regeln.
Sie haben angekündigt, notfalls erneut vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, sollte das BKA-Gesetz in seiner geplanten Form vom Gesetzgeber verabschiedet werden. Wie sehen Sie Ihre Erfolgsaussichten?
Das Gesetz soll in dieser Woche vom Bundestag verabschiedet werden. In der Anhörung haben die Sachverständigen dazu im Großen und Ganzen positiv Stellung genommen. Aber: Man lädt sich ja auch nicht nur Experten ein, die kritisieren! Also, wir werden uns das Ergebnis genau anschauen und dann entscheiden. Gierig sind wir nicht darauf, wieder zu prozessieren - wir machen das nur im äußersten Notfall. Entscheidend ist für uns die Frage: Ist der Kernbereich privater Lebensgestaltung hinreichend geschützt?
Die Fragen stellte Sandra Schmid.
Mitarbeit: Hans Monath
Gerhart Baum war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister. Aufsehen erregte der FDP-Politiker in den vergangenen Jahren durch mehrere Verfassungsbeschwerden, von denen drei erfolgreich waren: 2004 erklärte das Bundesverfassungsgericht den "Großen Lauschangriff", 2006 das Luftsicherheits- gesetz und 2008 die durch das NRW- Verfassungsschutzgesetz legalisierte Online-Durchsuchung für verfassungswidrig.