Strafrecht
Was kriminell ist und was nicht, regelt das Strafgesetzbuch. Auch das verändert sich permanent
Mit dem Strafrecht werden für sozialschädliche Handlungen Strafen angedroht. Die Entscheidungskompetenz hierüber steht dem Gesetzgeber zu - das heißt, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages bestimmen, was und wie bestraft werden soll. Die Strafjustiz kann erst anschließend tätig werden. Das ist im Grundgesetz, in Artikel 103 Absatz 2, verbrieft: "Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." Es müssen sowohl die Strafbarkeitsvoraussetzungen, also der Tatbestand, als auch die Strafbarkeitsfolgen bestimmt sein. In einem Rechtsstaat muss der Bürger sich auf eine mögliche strafjustizielle Inanspruchnahme durch Strafen einstellen können. Eine rückwirkende Strafe für Taten, die erst später für strafbar erklärt werden, ist unzulässig. In der Zeit der NS-Diktatur galt dies nicht: Rückwirkend konnte auch bestraft werden, wenn die Tat "nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient". Bereits vor dieser ausdrücklichen Strafausweitung hatte das Reichsgericht im Reichstagsbrandprozess den Angeklagten Marinus van der Lubbe auf der Basis eines Gesetzes zum Tode verurteilt, das erst nach der Tat erlassen wurde. Rechtsstaatliches Strafrecht legitimiert somit nicht nur Strafe, es begrenzt auch Strafe.
Das Hauptwerk des Deutschen Strafrechts ist das Strafgesetzbuch (StGB). Daneben finden sich in vielen Nebengesetzen Strafbestimmungen, so im Straßenverkehrsgesetz und im Betäubungsmittelgesetz. Das Verfahren, wie Straftäter ermittelt und Straftäter abgeurteilt werden, ist in einem eigenständigen Gesetz, in der Strafprozessordnung (StPO) geregelt. Für junge Menschen, also für Jugendliche von 14 bis 18 Jahren und Heranwachsende von 18 bis 21 Jahren gibt es ein eigenständiges Gesetz, in dem das Verfahren sowie die Strafen gesondert geregelt sind: Das Jugendgerichtsgesetz (JGG).
Das Strafrecht ist kein einmal vom Gesetzgeber behauener Monolith, der für alle Zeiten für die Bürger als Denkmal aufgestellt wird. Es wird permanent verändert, zunehmend schneller und häufiger. Zurzeit hat die Sicherungsverwahrung "Konjunktur". Sicherungsverwahrung bedeutet einen Straftäter auch nach Verbüßen der Strafe tendenziell lebenslänglich einzusperren. Gerade gefährliche Sexualstraftäter sollen damit auf Dauer weggesperrt werden. Jetzt kann die Sicherungsverwahrung auch nachträglich bei Jugendlichen und Heranwachsenden angeordnet werden, die zu einer Jugendstrafe von wenigstens sieben Jahren verurteilt wurden. Hieran wird deutlich, dass Strafgesetze nicht aus einem Gerechtigkeitshimmel fallen, sondern von gesellschaftspolitischen Einschätzungen der Kriminalitätsbedrohungen sowie der Wirkung von Strafen abhängig sind. Werden vermehrt Bedrohungen wahrgenommen und ist der Glaube an die Effizienz der Strafe ungebrochen, wird das Strafrecht verschärft. Strafrecht wird zurückgenommen, wenn Kriminalität im Allgemeinen oder bestimmte Kriminalitätsformen nicht als so gefährlich erscheinen oder wenn effektivere Mittel zur Verhinderung solcher Straftaten zur Verfügung stehen. Heute wird neben dem vermehrten Einsatz von Strafe gerade auch auf Prävention gesetzt. Prävention erscheint vernünftig, damit Straftaten verhindert werden; Strafverfolgung setzt erst nach der Tat ein.
Das erste Deutsche Strafgesetzbuch datiert aus dem Jahr 1532. Es ist die "constitutio criminalis carolina", die "Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl V.". Peinliche Gerichtsordnung deshalb, weil die Strafen auf Schmerzen und Pein ausgerichtet waren. Unser heutiges Strafrecht basiert in seinem Kern auf dem Reichsstrafgesetzbuch aus dem Jahre 1871. Seit dem hat es aber viele Veränderungen erfahren. Auch in der Zeit des so genannten Dritten Reiches galt es formal weiter - auch wenn die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, die millionenfachen Morde, nicht strafrechtlich verfolgt wurden.
Erst nach 1945 wurde die Verfolgung aufgenommen. Umgekehrt wurden neue Tatbestände geschaffen. So wurde mit dem Gesetz zum Schutze des Deutschen Blutes und der Deutschen Ehre vom 15. September 1935 der außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen Juden und "staatsangehörigen Deutschen oder artverwandten Blutes" unter Strafe gestellt. 1953 wurden in der Bundesrepublik zunächst die strafrechtlichen Vorschriften aus dem StGB entfernt, die von der nationalsozialistischen Strafideologie geprägt waren. Zeitgleich wurde in der DDR ein Strafrechtssystem im Sinne der sozialistischen Gesetzlichkeit eingerichtet.
In der Bundesrepublik erfolgten die Reformen mit sechs Strafrechtsreformgesetzen. Das erste datiert aus dem Jahre 1969, das sechste Reformgesetz wurde 1998 beschlossen. So wurde 1969 die Strafbarkeit der Homosexualität ("Unzucht zwischen Männern") sowie des Ehebruchs beseitigt. Während mit den ersten vier Strafrechtsreformgesetzen das Strafrecht liberalisiert wurde, hat der Gesetzgeber mit dem sechsten Reformgesetz sowie mit einer Vielzahl weiterer Änderungsgesetze das Strafrecht seit den 90-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder verschärft. Zum Teil wurden aber auch notwendige Korrekturen wie die ausdrückliche Bestrafung der Vergewaltigung in der Ehe (1997) sowie zur Verfolgung der internationalen Korruption (1998, 2002) vorgenommen.
Auch für das Jugendstrafrecht, das im Jahre 1923 von dem damaligen Reichsjustizminister Gustav Radbruch (SPD) eingeführt worden war, werden derzeit Strafverschärfungen gefordert, die von der Fachwelt geradezu einhellig abgelehnt werden. Das gilt insbesondere für die Einführung eines Kinderstrafrechts. Heute beginnt die Strafbarkeit mit 14 Jahren. Das war nicht immer so. Bis 1923 konnten auch Zwölf- und Dreizehnjährige bestraft werden, danach erst ab 14 Jahren. Im "Dritten Reich" wurden Zwölf- und Dreizehnjährige erneut bestraft, "wenn der Schutz des Volkes wegen Schwere der Verfehlung eine strafrechtliche Ahndung fordert." Auf Jugendliche wurde das Erwachsenenstrafrecht mit Einschluss der Todesstrafe angewendet, "wenn es das gesunde Volksempfinden wegen der besonders verwerflichen Gesinnung des Täters und wegen der Schwere der Tat fordert."
Strafrecht ist also von kriminalpolitischen Strömungen abhängig. Der Gesetzgeber hat hierbei einen großen Gestaltungsfreiraum. Es bestehen allerdings für ihn auch Bindungen. So ist der Gesetzgeber an Strafrechtsprinzipien gebunden, die sich aus der Verfassung, aus dem Grundgesetz sowie aus internationalen Rechtsregeln wie der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben. Meinungsäußerungen dürfen nur dann unter Strafe gestellt werden, wenn damit in fremde Rechte, in fremde Schutzsphären eingegriffen wird.
Bestimmte Religionen, bestimmte Parteien dürfen nicht unter einen gesonderten Strafrechtsschutz gestellt werden. In diesem Zusammenhang gilt es zu unterscheiden zwischen Moralwidrigkeit und Rechtswidrigkeit. Nur das so genannte ethische Minimum, wie es in den Artikeln des Grundgesetzes umrissen ist, darf von Staats wegen gefordert werden. In einem freiheitlichen Staatswesen ist der Staat keine Mo- ralinstanz, weshalb in einem strafrechtlichen Normverzicht nicht ein moralisches Gutheißen erblickt werden darf: Was als strafunwürdig definiert wird, ist damit noch nicht als moralwürdig hingestellt.
Auch darf das Strafrecht nur als letztes Mittel des Rechtsgüterschutzes, als "ultima ratio", eingesetzt werden. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der ein Element des Rechtsstaatsprinzips darstellt. Zuvor sind andere Steuerungsinstrumente wie das Zivilrecht oder das Verwaltungsrecht einzusetzen. Hinzu kommen Effizienzüberlegungen: Bei einem übermäßigen Einsatz von Strafandrohungen verpufft die Wirkung.
Das NS-Strafrecht hat uns darüber hinaus vor Augen geführt, dass es mit den Worten des Rechtswissenschaftlers und Strafrechtsreformers Gustav Radbruch "gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht" gibt. Unumstößliche Menschenrechte "überstimmen" also das zeitgebundene Strafrecht. Auf dieser Grundlage wurde etwa in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit verurteilt. Strafrecht hat deshalb immer nur "fragmentarischen Charakter", deckt nicht alle Regelverstöße der Bürgerinnen und Bürger ab. Nur bei elementaren Rechtsgüterverletzungen soll und darf der strafrechtliche Schutz eingreifen. Ausprägungen dieses Prinzips sind, dass Vorbereitungshandlungen zu einer Straftat grundsätzlich noch nicht unter Strafe gestellt werden, die Strafbarkeit erst mit Versuchsbeginn einsetzt. Das Ausspionieren einer günstigen Gelegenheit, etwa für einen Diebstahl, ist noch nicht strafbar. Erst wenn der Tatplan konkret umgesetzt wird, beginnt die Strafbarkeit. Andererseits betreibt der Gesetzgeber mit so genannten Gefährdungstatbeständen eine präventive Aufrüstung des Strafrechts. Das Waffengesetz ist ein solches Präventionsgesetz. Insbesondere bei der Terrorismusbekämpfung greift der Staat zu vorgreifenden strafrechtlichen Verboten wie mit dem Tatbestand "Bildung einer terroristischen Vereinigung" (§ 129a StGB). Ein Präventionsstrafrecht kann Schutz bedeuten, bedeutet aber immer auch vorgreifende Freiheitseinschränkung. Der Grundsatz lautet deshalb: Nur die notwendige Strafe ist gerecht. Letztlich ist Strafrecht somit ein Abbild der Rechtskultur in einem Staat.
Der Autor ist Professor für Rechtswissenschaften an der Universität Kiel. Er leitet dort die Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention.