SEXUALSTRAFTÄTER
Therapieplätze mehr als verdoppelt
"Wegschließen - und zwar für immer!" forderte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) 2001 nach dem Mord an der achtjährigen Julia. Der Bundestag erweiterte daraufhin 2004 mit einem Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung die Möglichkeiten, gefährliche Straftäter lebenslang einzusperren. Auch die Behandlung wurde wesentlich verbessert: Seit Anfang 2003 ist für alle Sexualstraftäter mit mehr als zwei Jahren Haft eine Therapie gesetzlich vorgeschrieben. Bundesweit stehen jetzt fast 2.000 Therapieplätze für Sexualstraftäter zur Verfügung, vor zehn Jahren gab es nicht einmal halb so viele.
"Therapeutisches Ziel ist, dem einzelnen Gefangenen zu verdeutlichen, wie es zu der Straftat gekommen ist und ihm zu zeigen, wie er sein Verhalten ändern kann", sagt Hilde van den Boogaart, Leiterin der Abteilung für Sozialtherapie in der Justizvollzugsanstalt Lübeck. Grundlage der Behandlung ist das aus Großbritannien stammende "Sex Offender Treatment Programm" (SOTP). Jeder der in Lübeck inhaftierten Sexualstraftäter muss diese mindestens 15-monatige Gruppentherapie durchlaufen. Die Gefangenen lernen hier, die Verantwortung für die Straftat zu übernehmen und die Schuld nicht bei anderen zu suchen. Rollenspiele sollen ihnen helfen, sich in das Opfer hineinzuversetzen. "Wenn der Gefangene begreift, was er dem Opfer angetan hat, schützt dies vor neuen Taten", erklärt die Vollzugsleiterin. Ein wichtiger Schritt ist getan, wenn der Täter Krisensituationen erkennt und darauf richtig reagiert: "Wer wegen Kindesmissbrauchs verurteilt ist, muss etwa darauf achten, mit Minderjährigen nicht alleine zu sein", so van den Boogaart.
Mit regelmäßigen Tests Im Laufe der Therapie wird kontrolliert, ob und wie sie bei dem einzelnen Gefangenen wirkt. Am Ende der 15 Monate erhält jeder Gefangene dann eine schriftliche Bewertung. Nicht selten gibt es Insassen, die das Programm oder einzelne Teile wiederholen müssen.
Für den Erfolg der Therapie sind jedoch auch die Bedingungen in der Abteilung entscheidend. Die 39 Gefangenen der Lübecker Sozialtherapie leben etwa in drei kleinen Wohngruppen. Neben einer Einzelzelle für jeden Häftling gibt es hier eine gemeinsame Küche und einen Aufenthaltsraum.
"Die Gefangenen sollen ihr Stationsleben, wie etwa den Putzplan, selbständig organisieren", sagt van den Boogaart. Gerade im Umgang miteinander zeige sich, ob die Häftlinge soziale Kompetenzen erworben hätten. Darüber hinaus gibt es verschiedene Freizeitgruppen im Gefängnis, wie Sport oder Kochen. Mindestens bei einer muss jeder Gefangene regelmäßig dabei sein. Die Teilnahme an einem zusätzlichen sozialen Kompetenztraining oder einer Suchtgruppe richtet sich dagegen nach den Defiziten des einzelnen Gefangenen.
Der wegen Kindesmissbrauchs verurteilte André litt etwa an massiven Kontaktschwierigkeiten. Frauen traute er sich nicht anzusprechen, so suchte der 35-Jährige immer öfter die Nähe von Kindern - mit fatalen Folgen. Über seine Verurteilung ist André heute aber froh: "Erst durch die Therapie im Gefängnis habe ich gelernt, mein Leben selber in die Hand zu nehmen und auf andere Menschen zuzugehen", sagt er. Vor einem Jahr wurde er entlassen, den Kontakt zu den Psychologen in der Lübecker Sozialtherapie hält er immer noch.
Auch Edgar ist dort noch ein regelmäßiger Besucher: Seit dem Ende seiner Haftzeit bekommt der 53-Jährige alle drei Monate eine triebhemmende Spritze. "Ich musste im Gefängnis schmerzhaft erkennen, dass ich pädophil bin", sagt Edgar. Heute aber ist sein sexuelles Verlangen durch die Medikamente vollständig eingeschlafen. Edgar sieht das als Chance, sich ein strafffreies Leben aufbauen zu können.
"Entlassungsvorbereitung und Nachsorge sind ein wichtiger Bestandteil der Therapie", sagt van den Boogaart. Neben der Wohnungs- und Arbeitsplatzsuche bekommen die Gefangenen zusätzliche Hilfe beim Finden einer Therapiegruppe am neuen Wohnort. "In einem akuten Krisenfall haben wir auch einen bereits Entlassenen zur Stabilisierung wieder für eine Woche aufgenommen", erzählt sie. Mit praktischer Hilfe im Alltag und psychologischer Unterstützung im Notfall könne der Weg in ein Leben ohne Straffälligkeit geebnet werden.
Wissenschaftliche Untersuchungen geben ihr Recht. So beweist etwa eine Studie des Max-Planck-Instituts aus dem Jahr 2002, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit eines Sexualstraftäters bei einer erfolgreich absolvierten Sozialtherapie um fast ein Viertel sinkt. Forscher aus Großbritannien und den USA sind zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Doch Sozialtherapie ist nicht für jeden Häftling geeignet: "Voraussetzung ist, dass der Gefangene die Tat nicht leugnet und zumindest eine minimale Eigenmotivation hat", sagt van den Boogaart. Aufgrund der Therapiepflicht würden aber auch Gefangene in ihre Abteilung kommen, die jegliche Tatbeteiligung abstreiten. In diesen Fällen scheitere die Sozialtherapie. Ob mit oder ohne angeordneter Sicherheitsverwahrung - gilt der Häftling nach Ablauf seiner lebenslangen Strafe weiterhin als gefährlich, hat er keine Chance freizukommen.