Jugendkriminalität
Der Kriminologe Christian Pfeiffer über die Ursachen von Gewalt
Das Jahr 2008 begann mit einer vehementen Debatte über kriminelle Jugendliche. Steigt Jugendkriminalität überhaupt?
Nein, im Gegenteil. Sie sinkt, seit Jahren und kontinuierlich.
Nimmt denn die Jugendgewalt zu?
Insgesamt: Nein. Raub- wie Tötungsdelikte sind seit Mitte der 1990er-Jahre um ein Fünftel zurückgegangen. Laut polizeilicher Kriminalstatistik steigen zwar die Körperverletzungen. Unsere von 1998 bis 2006 wiederholt durchgeführten Dunkelfeldbefragungen zeigen hier aber ein differenzierteres Bild. Teilweise gehen solche Gewalttaten zurück. Mancherorts steigen sie allerdings auch an - nämlich dort, wo soziale Gegensätze verschärft aufeinanderprallen. Da, wo immer mehr Jugendliche nicht mehr an den Satz glauben: Jeder ist seines Glückes Schmied.
Dennoch hat die Gesellschaft den Eindruck, dass die Verrohung unter Jugendlichen zugenommen hat. Die Hemmschwelle, dann noch zuzutreten, wenn jemand schon am Boden liegt, ist offenbar gesunken.
Auch das ist insgesamt betrachtet ein Irrtum - allerdings einer, für den es eine Erklärung gibt: Die Berichterstattung über Jugendgewalt ist sehr viel intensiver und emotionaler als früher. Und die Medien berichten wesentlich häufiger - was ja auch völlig richtig ist - aus der Sicht der Opfer. Die dadurch ausgelöste Identifikation führt allerdings auch dazu, dass die gefühlte Kriminalitätstemperatur sich von der Wirklichkeit entfernt. Ein klassisches Beispiel dafür aus einem anderen Kriminalitätsfeld ist: Weil die Berichterstattung über Sexualmorde stark angestiegen ist, glauben die Menschen, dass solche Tötungsdelikte drastisch zugenommen haben. Dabei sind sie in den vergangenen 30 Jahren auf ein Drittel zurückgegangen.
In welchen Gegenden haben sich die sozialen Konflikte so verschärft, dass die Gewalt messbar zunimmt?
Der für uns auffälligste Anstieg findet nicht in einer Region statt, sondern in einer Schulform: Die Zusammenballung hoch belasteter Jugendlicher an Hauptschulen führt dazu, dass die Gewaltbereitschaft unter ihren Schülern deutlich zugenommen hat - und zwar gar nicht einmal in der Schule, sondern anschließend.
Das lässt sich nachweisen?
Ja. Wir fragen Jugendliche seit Jahren, welchen Schultyp sie besuchen. Vor zehn Jahren war der Besuch einer Hauptschule kein eigenständiger Verstärkungsfaktor für Jugendgewalt. Jetzt ist das anders.
Das liegt aber doch nicht an der Hauptschule - sondern an den Milieus, aus denen die Schüler stammen. Sie können die Hauptschule abschaffen - aber nicht die schwierigen Schüler.
Ganz so einfach ist das nicht. Hauptschüler kommen schließlich nicht als Kriminelle dort an - mit zehn oder elf sind Kinder in der Regel noch keine Rabauken. In einer motivierenden Umgebung hätten sie alle Chancen, sich normal zu entwickeln. Stattdessen kommen sie in eine Umgebung, die wenig Perspektiven bietet und in der es Lehrern oft nicht gelingt, sie zum Lernen zu motivieren. Die Schwänzraten sind dann enorm, der Konsum von Gewaltspielen auch. All das hat auf die Entwicklung krimineller Karrieren verstärkenden Einfluss.
Sie sind Kriminologe und kein Pädagoge! Ist es wirklich so einfach: Jugendkriminalität als Folge von Perspektiv- losigkeit?
Ja, natürlich: Dass Perspektivlosigkeit für kriminelles Verhalten eine zentrale Rolle spielt, ist völlig unstrittig. Weitere wesentliche Faktoren sind Gewalt in der Familie und falsche Freunde. Da sind wir aber schon wieder bei den Hauptschulen: An integrierenden Schulen haben Jugendliche die Chance auf eine normale Peer-Group. An der Hauptschule haben sie die jedoch kaum. Und der Einfluss ist immens!
Weil sie sich gegenseitig anstiften?
Genau. Ein Beispiel: In Hannover haben junge Türken vor zehn Jahren zu knapp 50 Prozent die Hauptschule besucht. Dank zahlreicher Maßnahmen der Stadt und der Zivilgesellschaft sind es heute nur noch gut 30 Prozent. Das Gymnasium besuchen mit 15 Prozent fast doppelt so viele wie noch 1998 und 52 Prozent sind Richtung Realschulabschluss unterwegs. Dadurch haben junge Türken heute viel häufiger deutsche Freunde. In der gleichen Zeit ist die Quote türkischer Jugendlicher, die im letzten Jahr mehr als fünf Gewalttaten verübt haben, von 15 auf gut sieben Prozent gesunken.
Die Frage nach der Kriminalität ausländischer Jugendlicher ist eine Gretchenfrage: Die einen sagen: Sie sind überdurchschnittlich kriminell...
... stimmt: Genau genommen führt die Gruppe der Türken bundesweit jede Gewaltstatistik an.
...die anderen: Zieht man ihre soziale Schicht in Betracht, sind sie nicht häufiger kriminell als Deutsche...
Stimmt auch. Wenn Sie - was wir getan haben - türkische Realschüler, die zuhause nicht geprügelt wurden, keine Armut und ein normales Wertekonzept erleben, mit ebensolchen Deutschen vergleichen zeigt sich: Diese Türken werden genauso selten kriminell wie Deutsche. Leider wächst aber nur eine Minderheit von ihnen unter solch guten Bedingungen auf. Viele Familien sind einer ausgeprägten Macho-Kultur verhaftet. Neben der Perspektivlosigkeit macht auch ihr Erziehungsstil die Herausbildung krimineller Karrieren wahrscheinlicher. Auch hier gilt aber: Gewalt und autoritäre Strukturen in türkischen Familien gehen zurück.
Auch die Eltern der Kinder müssen bereit sein, sich auf das deutsche Bildungssystem einzulassen. Letztendlich sind sie es doch, die man erreichen muss.
Aber Eltern erreicht man nur, wenn man auf sie zugeht. Ich weiß von einer Lehrerin, die mit ihren überwiegend muslimischen Schülern sowohl eine Moschee als auch eine katholische Kirche besucht hat. Nicht nur die türkischen Kinder waren da unglaublich stolz, sondern auch ihre Eltern. Und plötzlich standen der Lehrerin die Türen zu den Elternhäusern offen. Als Justizminister habe ich dies auch erlebt.
Was wird aus Jugendlichen, die im Knast landen. Kommen sie weniger kriminell heraus?
Pauschal geantwortet: Nein. Für eine Studie haben wir 2.300 junge Gefangene begleitet - vom Tag ihrer Inhaftierung bis sechs Jahre später. Seither wissen wir: Gefängnis an sich hat wenig Erzieherisches; auch all die Bildungs- und Trainingsmaßnahmen zeigen kaum positive Auswirkungen. Das einzige, was etwas bringt, ist eine professionelle Entlassungsvorbereitung.
Das heißt?
Wenn es gelingt, den Strafgefangenen dabei zu begleiten, eine Wohnung, eine Arbeit und am besten auch ein bisschen soziale Nähe zu organisieren, haben die Leute eine Chance auf ein anderes Leben. Der Grund dafür ist simpel: Aus Sicht des Volkes bleibt ein Knacki ein Knacki. Es braucht eine Menge Bewährungshilfe um wider diesen Leumund ein Leben in Freiheit zu organisieren.
Politisch ist das umstritten: Wer kriminell wird, wandert ins Gefängnis und bekommt anschließend einen Sozialarbeiter, der ihm hilft, das zu kriegen, was viele andere nicht bekommen.
Das mag sein. Aber fest steht, dass es nicht nur für den Entlassenen sinnvoll ist, sondern auch für die Gesellschaft. Auch der ist nicht geholfen, wenn Leute immer wieder kriminell werden. Das macht das Land nicht sicherer - und die gesellschaftlichen Folgekosten sind enorm.
Sie arbeitet als freie Journalistin in Berlin.