Interview
Psychologin Janina Neutze vom Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité Berlin über eine bundesweit einzigartige Therapie für Pädophile
Frau Neutze, Sie arbeiten in einem weltweit einzigartigen Forschungsprojekt der Charité mit Männern, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen. Worum geht es dabei?
Wir wenden uns an Männer, die aufgrund ihrer Neigung sexuell für Kinderkörper ansprechbar sind, aber aktuell nicht in Kontakt mit der Justiz stehen. Insbesondere Männern, die noch keinen Übergriff begangen haben, wollen wir ein präventiv-therapeutisches Angebot machen.
Warum nur diesen Männern?
Die eigene Motivation, sich helfen zu lassen, ist für den Erfolg der Therapie entscheidend. Jemand, der sich etwa in einem laufenden Verfahren befindet, hat vielleicht andere Motive für eine Teilnahme: Er erhofft sich Vorteile für den Ausgang des Verfahrens. Es geht uns deshalb um potenzielle Täter, Männer aus dem so genannten Dunkelfeld. Mit ihnen wollen wir arbeiten und zeigen, dass Prävention erfolgreich ist.
Wie können Sie sicher sein, dass Sie nicht auch mit Männern arbeiten, die ihre Taten verschweigen?
Aus den Gesprächen, die wir führen. Die Leute, die zu uns kommen, sind anonym. Sie haben nichts zu befürchten. Durch die ärztliche und therapeutische Schweigepflicht sind sie geschützt. Sie haben also gar keine Not, uns anzulügen.
Aber Sie sind doch in einem Dilemma: Ihnen sitzt vielleicht ein früherer Täter gegenüber und Sie müssen schweigen.
Ich erlebe das nicht als Dilemma. Wenn jemand zu mir sagt: Ich bin hier, weil ich verhindern will, dass etwas passiert, das schon einmal passiert ist - dann muss ich das honorieren und ihm helfen. Würde der Mann befürchten müssen, dass ich ihn der Justiz übergebe, dann würde er nicht kommen, und wir könnten ihn nicht behandeln.
Sie gehen also davon aus, dass sich Pädophilie behandeln lässt. Aber kann man denn tatsächlich seine Triebe kontrollieren?
Ja, das kann man. Was allerdings nicht geht: Pädophilie heilen. Ein Pädophiler wird immer durch einen Kinderköper erregbar sein. Aber ob er seiner Erregung nachgeht, das ist etwas anderes. Zum Vergleich: Ein Mann, der eine attraktive Frau sieht, muss ja auch nicht sofort mit ihr Sex haben! Menschen haben Mittel und Wege, auch starke sexuelle Impulse zu kontrollieren. Das ist bei einem Pädophilen nicht anders!
Aber er muss auf Sexualität verzichten - sein Leben lang!
Er kann sich selbst befriedigen. Und er hat seine Fantasien. Das ist die einzige Form, wie er Sex leben kann. Denn: Fantasien schaden niemanden.
Nur Wirklichkeit dürfen sie nicht werden. Welche Faktoren begünstigen, dass ein Mann übergriffig wird?
Klare Risikofaktoren sind ein hohes Maß an erlebter Einsamkeit, eine geringe Fähigkeit, sich empathisch in Opfer hineinzufühlen oder problematische Einstellungen, wie etwa die Ansicht, Kinder bräuchten Sex.
Wie kommt es zu solchen Einstellungen? Spielen eigene Missbrauchserfahrungen eine Rolle?
Das wissen wir nicht. Auch nicht, ob das tiefe Überzeugungen sind oder einfach eine Entlastungsstrategie. Uns interessiert, ob es solche Einstellungen gibt. Sie reduzieren die Hemmung übergriffig zu werden.
Aber was sind die Ursachen für diese Störung?
Vieles deutet daraufhin, dass sowohl biologische als auch psychosoziale Faktoren eine Rolle spielen. Es gibt zum Beispiel Theorien, die hormonellen Faktoren in der frühkindlichen Phase eine Bedeutung beimessen. Man muss sich das wie eine Präposition vorstellen. Wenn dann noch psychosoziale Faktoren dazu kommen.
Was lernen die Männer als erstes bei Ihnen?
Viele sagen: Ich will das gar nicht haben - kann man das nicht wegmachen? Es ist der erste Schritt der Therapie klarzumachen, dass das eben nicht geht. Dieser Prozess der Akzeptanz ist ähnlich bei chronischen Erkrankungen. Wer etwa an Diabetes erkrankt ist, der muss auch erst annehmen, dass ihn die Krankheit ein Leben lang begleiten wird.
Diese Akzeptanz fällt sicher schwer.
Ja, viele der Männer, die zu uns kommen, leiden massiv unter ihrer sexuellen Ausrichtung. Wir wissen zudem aus Forschungsdaten, dass Pädophile oft unter psychischen Folgeproblemen leiden: Depressionen, psychosomatische Krankheiten, Alkoholmissbrauch, Suizidversuche. Wenn man allein bedenkt, dass sich seit 2005 über 800 Personen bei uns gemeldet haben - und nicht nur aus dem Berliner Umland, sondern aus ganz Deutschland und sogar aus Österreich und der Schweiz -, dann kann man ermessen, wie groß die Notwendigkeit eines Therapieangebots ist. Wir haben Patienten, die reisen morgens an und fahren abends zurück - dreimal die Woche. Auch das ist ein Hinweis auf ihren Leidensdruck.
Wie wollen Sie den Männern helfen?
Wir versuchen etwa ihre Fähigkeit zur Empathie weiterzuentwickeln. Eine typische Übung wäre: Stellen Sie sich vor, Sie wären Ihr eigenes Opfer und schrieben einen Brief an den Täter. Was stände da drin? Damit trainieren wir die Auseinandersetzung mit der Situation, den Perspektivwechsel, das Einfühlungsvermögen.
Haben Sie schon Hinweise darauf, ob diese Therapie erfolgreich ist?
Wenn man mit den 33 Männern spricht, die die einjährige Therapie abgeschlossen haben, und deren Fragebögen auswertet, dann lässt sich ein deutlicher Vorher-Nachher-Effekt feststellen: Die Männer haben mehr Opferempathie und seltener problematische Einstellungen. Auch die Vorstellungswelt der Männer hat sich verändert, sie haben entdeckt, dass es etwas anderes als Sexualität gibt. Viele sagen: Erst jetzt habe ich überhaupt Freunde, weil die Therapie mir geholfen hat, zu mir zu stehen. Abschließend können wir diese Ergebnisse noch nicht präsentieren, weil wir statistisch gesehen bestimmte Gruppengrößen brauchen. Doch diese ersten Hinweise sehen gut aus.
Thema Freunde: Wie offen können Pädophile überhaupt mit ihrer Neigung umgehen?
Grundsätzlich ermutigen wir zur Offenheit, wenn ein Mann sich erklären will. Dennoch wissen wir, dass es nicht leicht ist. Ein Alkoholiker, der ein Glas Wein ablehnt, weil er trocken ist, erntet Respekt. Ein Pädophiler, der mit dem Hinweis auf seine Neigung ablehnt, etwa auf ein Nachbarskind aufzupassen, würde sofort geächtet. Dabei verhält er sich genauso verantwortungsvoll wie der Ex-Alkoholiker.
Die Fragen stellte Sandra Schmid.
Sie ist freie Journalistin in Berlin.