DNA-Datenbanken
Datenschützer sind alarmiert, seit Polizeibehörden in Europa genetische Informationen austauschen dürfen
Für Ermittler ist sie die "Frau ohne Gesicht": Zuletzt fanden Polizisten ihre Fährte nach einem brutalen Überfall im abgelegenen Vereinsheim des Angelsportklubs in Mettlach im Saarland. Unbekannte schlugen im Mai eine 57-Jährige nieder, die dort putzen wollte. Zurück blieb einmal mehr die genetische Spur einer Frau, die wahrscheinlich seit 15 Jahren an einer beispiellosen Serie von Verbrechen in Deutschland, Österreich und Frankreich beteiligt ist. Auch in Heilbronn, wo am 25. April 2007 die 22-jährige Polizistin Michèle Kiesewetter per Kopfschuss getötet wurde, fanden sich Hinweise auf das "Phantom". An 33 Orten in drei Ländern hinterließ die Frau DNA-Spuren, mal auf Keksen, mal auf Patronenhülsen.
Kriminalisten und Politiker ziehen gern das Beispiel der "Frau ohne Gesicht" heran und argumentieren, mit dem Austausch genetischer Fingerabdrücke zwischen EU-Ländern werde ein Fahndungserfolg erst möglich. Dafür haben die Europäer die Grundlage geschaffen: Im Vertrag von Prüm besiegelten sieben EU-Staaten 2005 den Transfer von DNA-Daten. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft setzte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) dann Anfang 2007 neue europaweite Regeln durch, die der Polizei direkten Zugriff auf Dateien mit Gen- Codes und Fingerabdrücke anderer Länder ermöglichen. Auch deutsche und US-amerikanische Behörden sollen nach einer Vereinbarung ihrer Regierungen vom Frühjahr 2008 künftig im Kampf gegen Terroristen solch intime Infos austauschen können..
Schäuble verteidigt dies als "wichtigen Schritt in der Bekämpfung schwerwiegender Kriminalität, insbesondere des internationalen Terrorismus". Doch wenn Regierungen gegen Terror oder Verbrechen Menschen ausspähen, schreien Datenschützer regelmäßig auf. Besonders laut geschieht dies beim Zugriff auf den Code, der alles von Krankheiten bis zur ethnischen Herkunft verraten kann. Der EU-Datenschutz-Beauftragte Peter Hustinx ist empört, dass gerade die Deutschen in der EU etwas durchboxten, "was so nicht hätte beschlossen werden dürfen". In der Europäischen Union seien die Unterschiede im Datenschutz riesig. Da wirke ein Austausch von DNA-Daten fatal: "Das wird der Alptraum nicht nur für EU-Bürger, sondern auch für die Strafverfolgungsbehörden." Es fehlten klare Regeln, wie viel die Polizei jeweils aus dem Erbgut erfahren und was sie damit tun dürfe. Hustinx stellt klar, dass keineswegs nur Verbrecher betroffen seien. Bei Fahndungen würden alle genetischen Spuren am Tatort erfasst: "Wenn Sie also ein Glas Wasser an einer deutschen Autobahnraststätte trinken, weiterfahren und eine Stunde später dort ein Raubüberfall stattfindet, kann Ihre DNA in einer Datenbank enden." Unklar sei aber, wie Behörden innerhalb Europas mit solchen letztlich irrelevanten Daten umzugehen hätten.
Das Sammeln und Speichern von Daten geschieht in Europa höchst unterschiedlich. Das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden hatte Mitte 2008 etwas mehr als 700.000 Datensätze aus dem menschlichen Erbgut gespeichert, jeden Monat kommen 10.000 neue DNA-Sätze dazu. Das BKA nutzt beispielsweise acht Stellen im DNA-Strang, andere Länder arbeiten aber mit zehn bis 15 Abschnitten. Manche Länder speichern die Daten unbegrenzt, andere löschen nach bestimmten Fristen. Manchmal werden vom Asylbewerber bis zum Verkehrssünder alle erfasst, mal nur Verdächtige bei schweren Verbrechen oder überführte Straftäter gespeichert. Mal werden die Angaben akribisch erhoben, mal haben Labore geschlampt.
Die britische Regierung hat dafür gesorgt, dass ihre ansonsten eher staatskritischen Bürger am stärksten weltweit durchleuchtet werden. Etwa viereinhalb Millionen Menschen oder 7,5 Prozent der Bevölkerung sind genetisch erfasst, jeden Monat kommen 30.000 neue Proben dazu. Nicht nur Straftäter und bloße Verdächtige werden zur Speichelprobe verdonnert und registriert. Auch Unschuldige, die an einem freiwilligen Massentest bei einer Fahndung teilnehmen, bleiben in den Akten. Kritiker werfen der Polizei in ihrer Sammelleidenschaft zudem Rassismus vor. Fast 40 Prozent der schwarzen Männer landeten in der Kartei, aber nur 13 Prozent der asiatischen und neun Prozent der weißen Geschlechtsgenossen. Deutlich zeigt sich in Europa in etwa ein Nord-Süd-Gefälle: Im Norden und in Mitteleuropa sammeln die Ermittler fleißig Daten für nationale Informationsbanken. Die Mittelmeerländer erheben so etwas seltener, weil Einzelne dort traditionell einen hohen Schutz gegenüber dem Staat genießen. Zum Beispiel darf in Frankreich niemand gezwungen werden, eine Speichelprobe abzugeben. Ähnlich schwierig ist es für Ermittler in Italien.
In den Niederlanden dürfen Forensiker dagegen seit 2003 nach schweren Verbrechen "Phantombilder" von Tätern aus vorhandenen Gen-Informationen erstellen. Inzwischen können Experten die Augen- und Haarfarbe eingrenzen oder grob bestimmen, aus welcher Region die Vorfahren eines Verdächtigen stammen. Auch die Veranlagung für bestimmte Krankheiten lässt sich bestimmen. In Großbritannien und Spanien hat die Methode bereits Erfolge gebracht. So konnten Ermittler zeigen, dass die Täter bei den Zuganschlägen 2004 in Madrid aus Nordafrika stammten.
Je mehr aber Daten über Grenzen hinweg getauscht werden, desto größer ist die Gefahr des Missbrauchs. Was geschieht, wenn ein Land Material anfordert, das im anderen Staat per Gesetz gar nicht gesammelt werden dürfte? Werden zum Beispiel Asylbewerber, deren Daten im einen Land routinemäßig erhoben werden, im anderen Land dadurch schneller zu Verdächtigen? Können später Daten aus genetischem Material herausgelesen werden, obwohl die Betroffenen dem nie zugestimmt hätten?
Besonders das jüngste Abkommen zwischen Deutschland und den USA halten Datenschützer für schwer verständlich. Ermittler beider Seiten sollen gespeicherte Daten von Fingerabdrücken oder DNA einsehen können. Dabei gilt das Verfahren "hit / no hit": Gibt es zum Beispiel in einem Mordfall in den USA eine genetische Spur, können die amerikanischen Behörden bei ihren deutschen Kollegen anfragen, ob diese Fährte dort bekannt ist. Nur bei einem Treffer ("hit") gehen die Ermittlungen weiter. Deshalb sprang Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) ihrem Ministerkollegen Schäuble bei. "Es geht keinesfalls um eine Verkürzung der Rechte", versicherte Zypries, "man spart nur die Vorarbeit."
Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, hält dagegen: Terror und Verbrechen könnten auch mit den bisherigen Möglichkeiten beiderseits des Atlantiks bekämpft werden. Jetzt aber hätten die USA die Möglichkeit, viel leichter Fingerabdrücke und andere Daten zu sammeln. Deshalb fühlen sich einige Europäer inzwischen vorverurteilt, weil ihre Erbinformationen frei für die Ermittler sind. Zwei Briten aus Sheffield zogen deshalb in diesem Jahr vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. So wurde etwa der jüngere, inzwischen 19-jährige Mann, im Alter von elf Jahren festgenommen und wegen eines versuchten Überfalls angeklagt. Die Richter sprachen ihn jedoch von allen Vorwürfen frei, er hat keine Vorstrafen - dennoch bleiben seine Daten im Kriminalregister. Das Verfahren in Straßburg gibt deshalb einen Vorgeschmack, was im gen-datenvernetzten Europa künftig häufiger passieren könnte. Die Anwälte der Sheffielder verlangten schlicht die Streichung ihrer Mandanten aus der DNA-Bank: "Als Menschen ohne Vorstrafen sollten sie einfach so behandeln wie der Rest der unbescholtenen Bevölkerung."
Cordula Tutt ist Parlamentskorrespondentin des Magazins Focus in Berlin.