Gefühlte Kriminalität
Die Angst geht um: Sind die Medien Schuld an unserer falschen Wahrnehmung? Denn eigentlich sinkt die Zahl an Straftaten seit Jahren
Vielleicht fing mit "Aktenzeichen XY" alles an. Als die Sendung 1967 zum ersten Mal über die Mattscheiben flimmerte, musste Moderator Eduard Zimmermann noch erklären: "Den Bildschirm zur Verbrechensbekämpfung nutzen, das ist der Sinn dieser Sendereihe." Erstmals strahlte das Böse in alle deutschen Wohnzimmer - und bei der Jagd auf Gauner und Ganoven waren die Zuschauer plötzlich hautnah dabei.
Heute, rund 40 Jahre später, ist die Fernseh-Präsenz von Mördern, Räubern und anderen Kriminellen nichts Ungewöhnliches mehr. Echte Polizisten nehmen uns in Doku-Soaps mit auf Streife. Und bei Amokläufen oder Attentaten sind die Kameras immer schneller vor Ort. Kriminalität im Fernsehen ist Alltag geworden. Und wir gehen der Berichterstattung auf den Leim: "Die Leute glauben, dass es mehr Gewalt gibt, weil einzelne Fälle so prominent aufbereitet werden", sagt Hans-Bernd Brosius, Medienwissenschaftler an der Universität München. "Über wenige einzelne Straftaten wird mehr berichtet als früher". Vor allem spektakuläre Morde oder Entführungen thematisieren die Medien bis ins Detail. "Dieser eine Fall rüttelt dann die Gemüter stärker auf, als der tägliche Wahnsinn", meint Brosius. Sprich: Wir überschätzen die Gefahr. Denn die Bilder der grausigen Einzeltaten bleiben in unserem Gedächtnis haften.
Doch nicht nur die Nachrichten befördern diesen Effekt. Auch das fiktionale Programm - Spielfilme, Krimis und Schocker - bleiben nicht wirkungslos: "Man glaubt, man kann das gut trennen", so der Medienwissenschaftler, "aber das ist nicht so". Als Beispiel führt Brosius Kindsmord und Kindsentführungen an: "Die Zahl der Fälle hat im Vergleich zu früher nicht zugenommen. Das würden die meisten Leute aber vehement bestreiten".
Tatsächlich klafft die Schere zwischen Realität und Vermutung weit auseinander. In der Studie "Die Medien, das Böse und wir" fanden das Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung Hannover und das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen heraus, dass die Mehrheit die Kriminalitäts-Entwicklung falsch einschätzt. Bei allen Straftaten unterstellten die Befragten einen starken Anstieg der Fälle. Beim sexuellen Missbrauch von Kindern etwa glaubten 40 Prozent, das passiere heute "sehr viel häufiger", 50 Prozent "viel häufiger" oder "etwas häufiger".
In Wahrheit ist das Gegenteil ist der Fall. Laut Kriminalstatistik nimmt der sexuelle Missbrauch von Kindern seit Jahren kontinuierlich ab. Auch gemordet wird in Deutschland immer weniger - zuletzt sank die Zahl von 818 auf 738 erfasste Morde im Jahr 2007. Hier war die Fehleinschätzung besonders krass: Beim Mord verschätzten sich die repräsentativ ausgewählten Bürger um mehr als das Doppelte, beim Sexualmord gar um fast das Sechsfache.
So verwundert es nicht, dass die Angst umgeht, selbst Opfer von Verbrechen zu werden. Rund ein Drittel der Deutschen fühlen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht sicher auf den Straßen, so das Ergebnis des European Crime and Safety Survey (EU ICS) von 2007. Ist das Fernsehen also schuld an der Verunsicherung? Verstärkt es die "gefühlte Kriminalität", weil es uns mit Horror-Meldungen überhäuft? Zumindest für seine Sendung sieht Aktenzeichen XY-Moderator Rudi Cerne das nicht bestätigen: Zwar "sensibilisiere" jede Veröffentlichung die Menschen. Doch das sei für die Aufklärung der schwierigen Fälle wichtig. Auch Werner Sohn von der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden will den Medien keinen Vorwurf machen: "Ein Amoklauf ist, gerade weil er so selten ist, ein Ereignis", sagt er. "Die Medien dafür verantwortlich zu machen, dass die Konsumenten ein korrektes Bild von der Kriminalität bekommen, das geht zu weit." Für den Kriminologen stellen sich andere Fragen. Etwa die nach der tatsächlichen Kriminalität: Ja, sagt er, statistisch betrachtet gibt es insgesamt immer weniger Verbrechen. "Doch die Kriminologie weiß selbst nicht genau, wie viel Kriminalität es überhaupt gibt." Denn in die Polizeistatistik flössen nur die Fälle ein, die angezeigt werden.
Darum spricht er von einem "doppelten wunden Punkt in der Wahrnehmung": Zum einen beschreibe der die Zuschauer, die sich durch die Darstellung von Kriminalität in den Massenmedien "dazu hinreißen lassen, übermäßig zu verallgemeinern". Zum anderen aber auch die Forschung: "Wenn sie die Kriminalität unterschätzt, weil nur das als Kriminalität untersucht werden kann, was in irgendeiner Weise in die polizeiliche Statistik gerät." Unbestritten ist aber: Während die Zahlen bei den meisten Delikten rückläufig sind oder stagnieren, nimmt die Gewaltbereitschaft insbesondere unter Jugendlichen über die Jahre hinweg drastisch zu.
Günter Huber von der Universität Tübingen hat in einer neuen Studie untersucht, inwiefern diese Tatsache auf den Medienkonsum Jugendlicher zurückzuführen ist. "Monokausale Aussagen sind aber unsinnig", erklärt Huber. Stattdessen spielten mehrere Faktoren eine Rolle: Das soziale Umfeld sowie die Persönlichkeitsmerkmale. "Im Verbund mit anderen Risikofaktoren wird es eben kritisch", so der Professor für Pädagogische Psychologie.
Doch eine Vermutung kann der Wissenschaftler bestätigen: Je früher Jugendliche in Gewaltmedien - zu denen auch Computerspiele zählen - einsteigen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie später gewalttätig werden.
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Köln.