kriminalität
Je stärker der Staat die Freiheit beschneidet, desto mehr muss er sich rechtfertigen
Was hat der Terrorismus mit dem Straßenverkehr zu tun? Offenbar eine Menge. Nicht selten hört man, auch von hohen Richtern, das Argument: Es gibt viel mehr Verkehrstote als Terroropfer. Und doch stellt der Staat nicht vor jede Kneipe einen Polizisten, um Trunkenheitsfahrten zu verhindern. Soll heißen: Da wir eine mobile Gesellschaft sein wollen, nehmen wir diese Risiken in Kauf. Es kann also nicht angehen, dass der Staat umfassend unsere Freiheitsrechte einschränkt, ohne dass klar ist, ob das wirklich notwendig ist. So eine verbreitete Lesart.
Richtig ist, dass es mehr als einen bloßen Anlass für Grundrechtseingriffe geben muss. Je tiefer der Rechtsstaat in Freiheiten einschneidet, umso mehr muss er sich rechtfertigen. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 fällt es vergleichsweise leicht, Terrorszenarien auszumalen - eben weil es an jenem Tag ein solches Szenario gab. Und es folgten weitere. Der Staat reagiert mit einem Katalog von Maßnahmen.
Aber es gibt einen grundlegenden Unterschied zum Straßenverkehr: Wer sich auf die Straße begibt, kann weitgehend selbst entscheiden, ob und wie er in Gefahr gerät, also: Ob er trinkt, bei Dunkelheit fährt, rast. Bei vielen Unfällen spielen solche Ursachen eine Rolle. Eine freie Gesellschaft kann es demgegenüber nicht hinnehmen, dass Unschuldige in Bahnen und Bussen oder in Pizzerias zerfetzt werden. Dieses Risiko ist nicht akzeptabel. Und es hat sich nicht nur in New York, sondern fast auch in zwei deutschen Regionalzügen sowie in Duisburg und Rüsselsheim verwirklicht. Es stimmt: Das Risiko für den Einzelnen ist bisher minimal. Doch Bedrohungen gibt es zweifellos - auch hierzulande.
Die Frage ist: Was tut man dagegen? Und wie weit darf der Staat gehen? Die Abwehrmaßnahmen müssen wirksam sein, aber sie dürfen die Bürger nur in möglichst geringem Umfang beeinträchtigen. Ein Trend ist nicht von der Hand zu weisen: Unter der Flagge der Sicherheit wird versucht, Vieles unters Volk zu bringen. Die Lage wird dadurch nicht einfacher, dass der Gegner kaum auszumachen ist: Die Chiffre Al-Qaida steht für eine Terror-Firma, die Filialen in der ganzen Welt unterhält. Die Mafia steht für Organisierte Kriminalität. Bei Al-Qaida macht ein Netz mehr oder weniger zusammenhängender Gruppen den Ermittlern zu schaffen. Die Europäische Union ist mit ihren Millionen schlecht integrierter Muslime und ihrer Freizügigkeit besonders gefährdet. Über die Art und Weise der internationalen Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung muss ständig gestritten werden. Es stellt sich dabei die Frage, ob die überkommenen Instrumente dazu taugen, die neuen Bedrohung zu bekämpfen.
Es reicht jedenfalls nicht, ständig zu wiederholen, in diesem Kampf dürfe es keine Tabus geben. Zweifellos muss der freiheitliche Staat seinen Bürgern das Gefühl geben, er habe alles Nötige für ihre Sicherheit getan. Das gilt auch für die Bekämpfung Organisierter Kriminalität, die ebenfalls zunehmend staatliche Grenzen überschreitet, sich moderner Kommunikationsmittel bedient und brutal vorgeht. Bisher hat sich gezeigt, dass der Rechtsstaat recht gut auf neue Herausforderungen reagieren kann. Das zeigen die Prozesse gegen islamistische Terroristen, aber auch der Fall Daschner. Hier ging es im Kern um das klassische Szenario einer "tickenden Bombe": Der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident, der dem Beschuldigten Schmerzen androhen ließ, um das Leben eines entführten Kindes zu retten, wurde vom Frankfurter Landgericht schuldig gesprochen, aber nur verwarnt.
Schwieriger ist zweifellos die Gefahrenabwehr. Wie erkennt man "Schläfer" und was macht man mit Fundamentalisten, die bisher keine Straftat begangen haben und auch keine konkret planen, aber von denen offenbar eine Gefahr für das Gemeinwesen ausgeht? Der Ruf nach einem Sonderrecht für Feinde hilft hier nicht weiter. Es ist erfreulich, dass in Deutschland breit über die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit debattiert wird. Weniger erfreulich ist aber, dass die Dauer mancher Entscheidungen Zweifel an der Handlungsfähigkeit des Staates weckt. Jahrelang wurde über die Anti-Terror-Datei, den abhörsicheren Digitalfunk oder die Online-Durchsuchung geredet. Aus der Sicht mancher Datenschutzfachleute haben wir schon einen Überwachungsstaat - als ob es das Ziel sei, möglichst viele Bürger auszuforschen.
Dabei ist das Überwachungsnetz eher dünn, wenn es um die Verfolgung internationaler schwerer Kriminalität geht. Es hat die Sicherheitsbehörden beinahe ihre ganze Kraft gekostet, die im Sauerland festgenommenen Terroristen daran zu hindern, explosive Chemikalien in Vernichtungswaffen zu verwandeln. Doch der Überwachung von Computern und Wohnräumen sind enge Grenzen gesetzt - wegen eines Verständnisses des Persönlichkeitsrechts, über das man streiten kann. Schließlich geht es hier um schwerste Vorwürfe. Der Telefonüberwachung hatte sich die Gruppe zuweilen entzogen, indem sie zahlreiche Telefongeschäfte nutzte. Hunderte von Beamten waren im Einsatz, was zur Folge hatte, dass andere Schwerkriminelle in jener Zeit unbehelligt blieben.
Nötig ist nicht zuletzt eine bessere Zusammenarbeit. Zunächst auf europäischer Ebene. Der Informationsfluss könnte besser sein. An Institutionen mangelt es nicht, aber an einer koordinierten und wirksamen Kriminalitätsbekämpfung im "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts". Allerdings darf nicht vergessen werden:
Es herrscht Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen zwischen Lissabon und Helsinki, ohne dass dies zu einem spürbaren Verlust an Sicherheit geführt hätte. Auch die Kontrollen an den Grenzen zu den östlichen Nachbarn wurden mittlerweile abgeschafft. Schleuserbanden sind hier als organisierte Kriminelle tätig, die nur durch wirksame Kontrollen an den Außengrenzen bekämpft werden können. Und die Mafia-Morde in Deutschland zeigen, dass es eben auch einen europäischen Verbrechensraum gibt. Hinzu kommt das Internet als virtueller weltweiter Raum - auch für Verabredung und Anleitung zum Verbrechen.
Im föderalen Deutschland fehlt bisweilen der Blick für das große Ganze. Schließlich geht es nicht nur um Terrorabwehr und Kriminalitätsbekämpfung, um innere und äußere Sicherheit, sondern auch um Integration und den Umgang mit den muslimischen Mitbürgern. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gab es in Deutschland - anders als in den unmittelbar betroffenen Vereinigten Staaten - keine umfassende Analyse zur veränderten Sicherheitslage und den neuen Herausforderungen. Viele Anstöße, aber lange kein Konzept.
Das heißt andererseits nicht, dass der föderale Rechts- und Parteienstaat strukturell überfordert wäre. Seine Fundamente sind gut. Es gibt auch keinen Anlass zur Hysterie - sogar im Fall eines Anschlags. Doch gerade wenn der freiheitliche Rechtsstaat ein freiheitlicher bleiben will, muss er auch seine Traditionen immer wieder daraufhin überprüfen, ob sie neu zu justieren sind. Wenn die demokratisch legitimierten Staatsgewalten sich dazu durchringen, Maßnahmen zuzulassen, die in Grundrechte eingreifen können, dann liegt erst einmal nicht die Vermutung auf der Hand, hier werde der Lust am permanenten Ausnahmezustand gefrönt. Vielmehr zeigt sich schon bei der Bekämpfung international agierender herkömmlicher Schwerkriminalität, dass manche Regeln und Ressourcen nicht mehr recht ausreichen.
Wenn es heißt, der Staat müsse mit seinen Feinden Schritt halten, ist damit gemeint, dass er sie im Blick behalten, erkennen und bekämpfen können muss, aber gerade nicht, dass er sich mit ihnen auf eine Stufe stellt. Diese Herausforderung kann er meistern. Er muss es auch.
Der Autor ist Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.