PISA
Streit um bestes Schulsystem neu entfacht
Wenn nicht schnell etwas passiert, hat es mit Deutschlands Top-Rolle in Chemie, Physik und Maschinenbau bald ein Ende. Nach Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und deutscher Wirtschaftsinstitute droht vor allem in den Natur- und Ingenieurwissenschaften ein enormer Mangel: Bereits in zehn Jahren wird jede zehnte Stelle für Ingenieure und Naturwissenschaftler unbesetzt bleiben. Bis 2030 könnten bis zu 750.000 einschlägige Arbeitskräfte fehlen.
Auch deswegen war es beruhigend, als das deutsche Pisa-Konsortium bei der Vorstellung der Schulleistungsstudie Pisa-E-2006 am 18. November in Berlin erklärte: In den Naturwissenschaften sind Deutschlands 15-Jährige besser als die meisten ihrer Altersgenossen in vergleichbaren Ländern. In 13 von 16 Bundesländern kamen die 2006 getesteten Schüler zu besseren Ergebnissen als der Durchschnitt der OECD-Staaten. Das sei, gab der Leiter des Konsortiums, Manfred Prenzel, unumwunden zu, ein "Ergebnis, von dem man bisher nur träumen konnte".
Besonders gut schnitten die Schüler in den neuen Bundesländern ab. Am besten waren die Sachsen, die damit die Bayern vom ersten Platz verdrängten. Auch international werden die sächsischen 15-Jährigen lediglich von ihren Altersgenossen im ewigen Pisa-Siegerstaat Finnland übertroffen.
Nach Ansicht von Experten stehen hinter dem Erfolg der Sachsen verschiedene Ursachen: In dem von Bevölkerungsrückgang geprägten Land sind die Klassen kleiner als in anderen deutschen Regionen. Statt auf drei setzt man außerdem auf zwei Schulformen: Neben dem Gymnasium existiert lediglich die sogenannte Mittelschule. "Risikoschüler", deren mangelnde Kompetenzen den Weg in einen Beruf schwierig bis unmöglich machen, finden sich dort seltener als an Hauptschulen anderer Bundesländer. Sachsens Kultusminister Roland Wöller (CDU) gab sich nach der Bekanntgabe der Ergebnisse selbstbewusst. Dank der Vereinigung des Haupt- und Realschulgangs erreiche über die Hälfte eines Schülerjahrgangs einen Realschulabschluss.
Die Bundestagsfraktionen sahen sich in ihren jeweiligen Positionen bestätigt. Jörg Tauss (SPD) betonte die Notwendigkeit einer Schulstrukturreform. Priska Hinz (Bündnis 90/Die Grünen) sah sich in ihrer Ansicht bestätigt, dass Kinder länger gemeinsam lernen müssen. "Jetzt ist es an der Zeit, dass auch die restlichen Bundesländer die zur Sackgasse gewordene Hauptschule endlich abschaffen", meinte Hinz. Cornelia Hirsch (Die Linke) forderte die flächendeckende Einführung von Gemeinschaftsschulen. Katherina Reiche (CDU) wies die Kritik am dreigliedrigen Schulsystem zurück. "Wir brauchen vielfältige schulische Angebote, um Talente gezielt fördern zu können", so Reiche. Auch Patrick Meinhardt (FDP) sagte, "Bundesländer mit gegliedertem Schulwesen haben die Nase vorne".
Dass Sachsen insbesondere in den Naturwissenschaften aufgeholt hat, kommt laut Pisa-Studie nicht von ungefähr. Naturwissenschaften waren in den ostdeutschen Bundesländern immer hoch angesehen. Der Anteil der MINT-Fächer - Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik - am Unterricht liegt bei einem Drittel, das ist mehr als in den meisten anderen Bundesländern. Nahezu jeder zweite sächsische 15-Jährige (46 Prozent) hat vier und mehr Stunden naturwissenschaftlichen Unterricht pro Woche; auch das ist bundesweit Spitze. "Ohne eine gewisse Stundenanzahl geht es nicht", kommentierte Manfred Prenzel, "in weniger als zwei Stunden lässt sich vieles nicht vermitteln." Bundesweit allerdings muss mehr als jeder dritte 15-Jährige (36 Prozent) mit unter zwei Wochenstunden auskommen.
Über Erfolg oder Misserfolg entscheidet aber nicht nur die Stundentafel. Die Pisa-Forscher nutzten die Befragung von 57.000 Schülern an mehr als 1.500 Schulen auch, um zu erfahren, auf welche Weise welcher Unterricht wirkt. Das Ergebnis ist ebenso erhellend wie überraschend: In allen Ländern schneiden Schüler, die vor allem "frontal" unterrichtet werden, besser ab als solche, die sogenannte "globale Aktivitäten" entfalten. Darunter zusammengefasst werden als modern geltende Unterrichtsformen wie das eigenständige Experimentieren und die Übertragung wissenschaftlicher Konzepte auf die Welt außerhalb der Schule. Als erfolgreichste Form identifizierten die Forscher den Unterricht, der sich durch "kognitiv fokussierte Aktivitäten" auszeichnet. So bezeichnet werden Schulstunden, in denen Schüler einerseits angeregt werden, eigene Schlüsse zu ziehen, andererseits aber kaum selbstständig forschen.
Also sollte man besser zum Frontalunterricht zurückkehren? Das muss nicht unbedingt sein. Die Ergebnisse zeigen, dass traditioneller Unterricht zwar das Wissen fördert, nicht aber das Interesse. Begeisterung für Naturwissenschaften wird vor allem in jener Unterrichtsform mit den schlechtesten Resultaten generiert: dort, wo Schüler häufig selbstständig und forschen und experimentieren. Interesse zu wecken muss jedoch ein zentrales Ziel bleiben. Es sei "etwas alarmierend", wie wenig es gelinge, auch hoch kompetente Schüler in Deutschland für Naturwissenschaften zu begeistern, erklärte Prenzel. Die Folgen zeigen sich nach der Schule: Von 100.000 Beschäftigten zwischen 25 und 34 Jahren haben in Deutschland 1.045 einen naturwissenschaftlichen Hochschulabschluss. Im Durchschnitt der OECD-Staaten sind es annähernd 1.300.