DEUTSCH-DEUTSCHE GESCHICHTE
Eine Dokumentation über die Fluchttunnel von Berlin
Pünktlich zum bevorstehenden 20. Jahrestag des Mauerfalls haben Dietmar Arnold und Sven Felix Kellerhoff die Geschichte der "Fluchttunnel von Berlin" aufgearbeitet. Erstmals - so betonen der Chef der "Berliner Unterwelten" und der "Welt"-Redakteur einleitend - sollen diese bis heute nur ungenügend dokumentierten Fluchtwege umfassend gewürdigt werden.
Basierend auf Berichten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Zeitzeugen-Interviews und Artikeln aus der zeitgenössischen Presse stellen die Autoren insgesamt 70 Tunnelbauten vor. Einige wurden verraten oder verfehlten ihr Ziel, andere liefen wegen des zu hohen Grundwasserspiegels voll Wasser. Nur zehn Tunnel erfüllten ihren Zweck und verhalfen mehr als 250 Menschen zur Flucht in den Westen. Der erste Stollen, den die Autoren dokumentieren, entstand bereits im Oktober 1961: Mit den jugendlichen Tunnelbauern flohen mindestens fünf weitere Menschen von Kleinmachnow nach Berlin-Zehlendorf. Schon im Ansatz scheiterte dagegen das letzte aufgezeichnete Projekt, ein Tunnel, der Ende 1982 vom Keller der Isländischen Straße 11 in Prenzlauer Berg aus gegraben wurde.
Arnold und Kellerhoff stellen zunächst dar, wie die "unterirdische Grenze" ab 1948 errichtet wurde: Im Zuge der Berlin-Blockade entstanden peu à peu zwei unabhängige Infrastrukturen, wurden die Rohrpostverbindungen, die Leitungen für Gas, Wasser und Strom gekappt. Bereits 1954 begannen die Ost-Berliner Verantwortlichen dann mit der Absperrung der Kanalisation. In den letzten Monaten vor dem Mauerbau am 13. August überprüften spezielle Truppen diese Barrieren und verstärkten sie - noch bis Ende 1961 setzten Bauarbeiter unter geheimdienstlicher Aufsicht den "Lückenschluss" fort. Dennoch gelang gerade im Herbst 1961 noch vielen Menschen die Flucht durch die unterirdischen Verbindungswege der Kanalisation, der U- und der S-Bahn.
Die meisten der im Buch beschriebenen Stollen entstanden zwischen 1962 bis 1964: Bis Anfang 1962 gab es bequemere Fluchtwege in den Westen und nachdem der "Tunnel 57" im Oktober 1964 in einer Schießerei endete, die einen Grenzsoldaten das Leben kostete, suchten die meisten Fluchthelfer nach geeigneteren Schlupflöchern. Zwar planten und bauten einige Gruppen weitere Tunnel, der Erfolg aber blieb ihnen meist versagt. Zum einen funktionierte das Spitzelsystem des MfS immer perfekter, zum anderen setzten die Grenzbewacher nun Sonden ein, die die charakteristischen unterirdischen Geräusche genau registrierten. Gerade in den "Hauptgrabungsgebieten" an der Bernauer Straße in Mitte und an der Heidelberger Straße in Treptow waren diese Gegenmaßnahmen erfolgreich. Im Berliner Nordosten, an der Grenze zu Neukölln, wurde außerdem ein tiefer Graben parallel zur Mauer ausgehoben.
Das Autorenteam versorgt seine Leser mit einer Fülle von Details zu den Tunnelbauten und den Akteuren. Dabei geraten die Charakterisierungen aber eher stereotyp. Über den Beteiligten eines Tunnelprojekts heißt es beispielsweise, er sei "ein aufrechter Berliner, der das Herz auf dem rechten Fleck hat und nicht auf den Mund gefallen" sei. Ebenso eindimensional gerät die Darstellung der Grenzsoldaten - die Fronten sind klar, Grautöne haben hier keinen Platz. Die Autoren schildern die Ereignisse, als wären sie dabei gewesen - bis hin zu den zurückgelassenen schmutzigen Tassen und den Gedanken der Tunnelbauer. Entstanden ist eine Darstellung, die am ehesten an das Fernsehformat Dokufiktion erinnert. Anderswo sind die Autoren leider weniger genau: So ist ihre Karte der Fluchttunnel nicht - wie behauptet - tatsächlich vollständig. Das heißt nicht, dass ihr Buch nicht unterhaltsam und sogar informativ wäre. Beides kann man aber auch von den genannten Fernsehformaten sagen. Gute Geschichtsbücher aber - oder, um im Bild zu bleiben: gute Dokumentarfilme - sehen anders aus.
Die Fluchttunnel von Berlin.
Propyläen Verlag, Berlin 2008; 288 S., 19,90 ¤