US-WAHL
Der neue Präsident Barack Obama verfügt künftig über eine breite Mehrheit im Kongress
Für Nancy Pelosi, die Präsidentin des US-Repräsentantenhauses war es ein doppelter Sieg. "Das ist eine Nacht, auf die wir gewartet haben", sagte die demokratische Politikerin in den frühen Morgenstunden des 5. Novembers zufrieden. Denn nicht nur Barack Obama schaffte am 4. November den Einzug ins Weiße Haus, auch bei den Parlamentswahlen konnten die Demokraten ihre Mehrheit ausbauen: Im 435-köpfigen Repräsentantenhaus stellen sie nach bisherigen Berechnungen 255 Abgeordnete. In der zweiten Kammer, dem US-Senat, gehörten bei Redaktionsschluss 57 Senatoren dem demokratischen Lager an. Ein abschließendes Ergebnis liegt aufgrund des knappen Wahlergebnisses aber noch nicht vor. Allerdings verfehlten die Demokraten wahrscheinlich die magische Schwelle von 60 Abgeordneten. Diese Zahl ist nötig, um politisch verhindern zu können, dass Gesetze durch endlose Debatten verzögert werden.
Den Wahlerfolg Barack Obamas und den Sieg über seinen republikanischen Kontrahenten John McCain feiern viele Amerikaner und andere Beobachter schon jetzt als historisch - in wenigen Monaten krempelte der in Hawai geborene und vor ein paar Jahren noch völlig unbekannte 47-Jährige die politische Landkarte der Vereinigten Staaten völlig um. Er gewann in Schlüsselstaaten wie Ohio und Pennsylvania, in denen praktisch seit Jahrzehnten kein Demokrat mehr punkten konnte. Rund zwei Drittel der 18- bis 29-Jährigen stimmten für Obama, unter weißen Wählern kam er auf 39 Prozent. Die Wahlbeteiligung war die höchste seit Ende des Zweiten Weltkriegs - sie lag nach ersten Schätzungen bei knapp 66 Prozent. Breite Unterstützung also für den neuen Präsidenten, auf dem nicht nur in der Zeiten der Finanzkrise viele Hoffnungen ruhen.
Die breite Zustimmung der Wähler sollte eine gute Ausgangsposition für den künftigen amerikanischen Präsidenten bieten. Mit der nächsten Legislaturperiode im Januar 2009 werden neben dem Weißen Haus auch beide Kammern des Kongresses von den Demokraten "kontrolliert". Die Handlungsoptionen des nächsten Präsidenten Barack Obama, etwa bei schwierigen Entscheidungen in der Finanz- und Energiepolitik, werden damit auf jeden Fall erweitert. Die neue Machtkonstellation sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Regierungssystem der Vereinigten Staaten nicht über die so genannte Parteidisziplin funktioniert. Vielmehr sind der Präsident und der Kongress ungeachtet der politischen Couleur "antagonistische Partner".
Der zentrale Unterschied zwischen dem US-amerikanischen "checks and balances"-System und parlamentarischen Regierungssystemen wie in Deutschland liegt in der unterschiedlichen Beziehung zwischen der Legislative und der Exekutive. Anders als der US-Präsident, der durch einen Wahlakt eine eigene Legitimation durch den Wähler beanspruchen kann, wird zum Beispiel die deutsche Kanzlerin mittelbar von der Mehrheit im Parlament gewählt. Auch in der politischen Auseinandersetzung muss der Kopf der Exekutive darauf vertrauen können, dass seine Politikinitiativen von seiner Fraktion beziehungsweise Koalition im Bundestag mitgetragen werden.
Im politischen System der USA sind Legislative und Exekutive nicht nur durch verschiedene Wahlakte stär-ker voneinander getrennt. Das System der "checks and balances" ist vielmehr gekennzeichnet durch konkurrierende, sich gegenseitig kontrollierende politische Gewalten. Der amerikanische Kongress übernimmt nicht automatisch die politische Agenda der Exekutive des Präsidenten, selbst wenn wie in Zukunft das Weiße Haus und Capitol Hill von der gleichen Partei "regiert" werden.
In der Vergangenheit hatten sich der amtierende republikanische Präsident George W. Bush und der demokratische Kongress mehrfach gegenseitig blockiert. Auch sein demokratischer Vorgänger Bill Clinton hat den Widerstand des Kongresses bitter erfahren müssen, als er versuchte, das amerikanische Gesundheitswesen zu reformieren.
Während im US-System die Legislative - das heißt die zwei Kammern im Kongress, das Abgeordnetenhaus und der Senat - als Ganzes mit der Exekutive um Machtbefugnisse konkurrieren, ist die "Opposition" im parlamentarischen System auf die Minderheit im Parlament beschränkt, die nicht die Regierung trägt. Für die Regierungspartei bzw. -koalition sind Partei- und Fraktions- bzw. Koalitionsdisziplin grundlegend erforderlich, um die Funktionsfähigkeit der eigenen Regierung, ja des parlamentarischen Regierungssystems zu gewährleisten. Da Exekutive und Parlamentsmehrheit in einer politischen Schicksalsgemeinschaft verbunden sind, haben einzelne Abgeordnete ohnehin ein Eigeninteresse, bei wichtigen Abstimmungen nicht von der Parteilinie abzuweichen und sich der Fraktionsdisziplin zu fügen. Wahlverfahren, Parteienfinanzierung, Kandidatenrekrutierung und die hohe Arbeitsteilung im Parlament geben weitere Anreize für parteidiszipliniertes Verhalten.
Hingegen ist in den USA die politische Zukunft einzelner Abgeordneter und Senatoren weitgehend unabhängig von der des Präsidenten; ihre Wahlchancen sind im eigenen Wahlkreis bzw. Einzelstaat zu suchen.
Aufgrund des Wahlsystems und der Politikfinanzierung sind "politische Einzelunternehmer" in den USA primär selbst für ihre Wiederwahl verantwortlich und haften gegebenenfalls auch persönlich für ihr bisheriges Abstimmungsverhalten im Kongress, weil sie sich gegenüber Interessengruppen und Wählern nicht hinter einer Parteidisziplin verstecken können. In der legislativen Auseinandersetzung fehlen US-Parteien Ressourcen und Sanktionsmechanismen, um den Gesetzgebungsprozess zu gestalten.
Parteien spielen in den USA - mit Ausnahme ihrer Funktion bei den Wahlen - eine untergeordnete Rolle. Ihr Unvermögen, Politik zu gestalten und auch für personellen Nachschub zu sorgen, eröffnet sowohl Think-Tanks als auch Interessengruppen größere Aufgabengebiete und Einwirkungsmöglichkeiten. So genannte advokatische Think-Tanks, die oftmals auch den entsprechenden rechtlichen Status erwerben, um Graswurzel-Lobbying betreiben zu können, arbeiten strategisch mit politisch gleichgesinnten Gruppen von Abgeordneten und Senatoren zusammen, um ihre Politikvorstellungen in die Tat umzusetzen. Dieser externe Einfluss einer Vielzahl unterschiedlicher und oft widerstreitender Interessen ist als erheblich einzuschätzen, vor allem auch bei den Kongresswahlen.
Da US-Abgeordnete und Senatoren keiner Parteidisziplin unterworfen sind, können sie sich auch nicht hinter ihr verstecken. Einzelne Politiker laufen ständig Gefahr, im Rahmen einflussreicher Kampagnen an den Pranger gestellt und gegebenenfalls bei der Kandidatur um eine Wiederwahl persönlich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sie wägen deshalb bei jeder einzelnen Abstimmung gründlich ab, wie sie sich bei den nächsten Wahlen für sie persönlich auswirken könnte. Der US-Präsident ist somit laufend gefordert, im Kongress für die Zustimmung seiner Politik zu werben, das heißt je nach Politikinitiative unterschiedliche und zumeist parteiübergreifende Ad-hoc-Koalitionen zu schmieden.
Demnach ist der künftige außenpolitische Handlungsspielraum von Barack Obama je nach Politikbereich unterschiedlich zu bewerten. Während er in der Rolle des obersten Sicherheitschefs großen Handlungsspielraum beanspruchen kann, insbesondere wenn Gefahr in Verzug droht, dürften zum Beispiel in der Handelspolitik teilweise erhebliche Beschränkungen nicht von der Hand zu weisen sein.
Angesichts der kritischen wirtschaftlichen Situation und der unsicheren Stimmung in den USA wird es künftig in der US-Handelspolitik verstärkt protektionistische Tendenzen und damit auch transatlantische Schwierigkeiten geben. Die deutsche Politik sollte ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf die Exekutive und den künftigen US-Präsidenten fixieren, sondern auch über die Ebene der Einzelstaaten ihre Politikvorstellungen in die öffentliche Debatte der USA einspeisen. Europäische Politiker und internationale Organisationen wären gut beraten, ihre diplomatischen Aktivitäten auch auf die einzelnen Abgeordneten, Senatoren, Gouverneure und deren Mitarbeiter zu richten. Transatlantische Beziehungen leben von den Netzwerken auf der Arbeitsebene, die sie tragen.