Geschichte
Seit Jahrhunderten streiten sich die Gelehrten darum, wie das Verbrechen in die Welt gekommen ist. Ein historischer Überblick
Das Böse hat eine neue Adresse. Zumindest, wenn man der Bild-Zeitung glauben darf. Im Sommer diesen Jahres vermeldete Deutschlands größte Boulevardzeitung, man habe an der Rostocker Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie bei einer Untersuchung an 28 rechtskräftig verurteilten Mördern, Totschlägern und Räubern "das Böse im Gehirn" gefunden. Dieser Darstellung zufolge seien bestimmte Regionen in den Gehirnen von Kriminellen weniger gut durchblutet als jene von Vergleichsgruppen. Im Kernspintomograph ließen sich bei ihnen Areale des Gehrins ausmachen, die erst nach intensivsten kriminellen Reizen aktiviert würden. Das Böse wohnt also nicht mehr in Nebelheim und Unterwelt. Das Böse ist mitten unter uns. Irgendwo versteckt unter unseren Hirnlappen wartet es darauf, dass man es in die dunkle Gasse entlässt.
Was aber genau ist dieses "Böse"? Wie sieht die ominöse Kraft aus, von der Leo Tolstoi einst meinte, dass sie sich primär durch das Fehlen "des Guten" auszeichne? Jahrhunderte lang haben sich Philosophen und Rechtsgelehrte über diese Frage den Kopf zerbrochen - vom italienischen Strafrechtsreformer Cesare di Beccaria bis zu den deutschen Aufklärern Hegel und Kant. Sie alle wollten wissen, wie das Böse in die Welt - oder zumindest in die Köpfe der Schurken und Ganoven gekommen sei. Die vielleicht trefflichste Antwort auf derlei Probleme hat vor einigen Jahren der norwegische Kriminologe Nils Christie gegeben. Auf die Frage, was eigentlich genau ein Verbrechen sei, antwortete dieser in nahezu sokratischer Manier: "Vieles und nichts".
Verbrechen, so der Autor zahlreicher soziologisch-kriminologischer Bücher, sei eigentlich nicht mehr als ein Konzept. Über dessen Anwendung könne frei entschieden werden. Eine banale Aussage. Doch bei Licht betrachtet, hat Christie vermutlich Recht. Verbrechen sind nicht mehr als gesellschaftliche Übereinkünfte. Denn was in dem einen Land Recht ist, das kann in einem anderen bereits teuer werden. Oft reicht schon etwas Luftveränderung, und aus einem redlichen Bürger wird ein banaler Bösewicht. So gesehen ist kriminell lediglich das, was kriminalisiert und als böse definiert worden ist.
Solch Kriminalisierung hat eine lange Geschichte. Die Problematik von Grenze und Grenzüberschreitung reicht weit zurück bis in die Stoffe der alten Mythen hinein. Dass etwa Prometheus zum Feuer- und Adam zum Obstdieb geworden ist, das lag vermutlich nicht an deren kriminellem Naturell. Streng genommen waren die Götter selbst daran schuld. Die nämlich hatten im Vorfeld Normen und Gesetze definiert. Was im Chaos der ersten Schöpfungstage noch ganz normale Handlung gewesen wäre, das wurde hernach als eine Auflehnung gegen die kosmisch gegebene Ordnung geahndet.
So gesehen ist das Verbrechen Normalfall. In jeder Kultur und in jedem auf Normen basierendem Sozialsystem ist es zuhause. Das Böse ist jene Handlungsalternative, die von einer verbindlichen Gemeinschaft im Vorfeld als schädlich ausgeschlossen worden ist. Verbrechen ist auch Freiheit. Zumindest zahlreiche Philosophen der Aufklärung haben es als solche definiert. Für sie musste jeder kriminellen Handlung eine freie Entscheidung für das Unrecht vorausgehen. Wie autonom indes diese Freiheit wirklich ist, darüber entzündete sich Ende des 19. Jahrhunderts ein bis heute nachwirkender Gelehrtenstreit.
Es war gegen Mitte der 1870er-Jahre, als der italienische Gefängnisarzt Cesare Lombroso eine folgenschwere Entdeckung machte. Bei der Autopsie des gefürchteten Straßenräubers Giuseppe Vilella meinte der glühende Anhänger Charles Darwins Schädelanomalien entdeckt zu haben, die Ähnlichkeiten mit Schädelformen bestimmter Affenarten aufwiesen. Für Lombroso ließ das nur einen Schluss zu: Verbrecher seien Rückfälle in eine frühere Entwicklungsstufe des Menschen.
Gestützt auf über 3.000 Schädelvermessungen an Soldaten und Kriminellen formulierte er die Lehre vom homo delinquens - vom geborenen Verbrecher. Seiner Meinung nach sei dieser Typus von Geburt an organisch zum Verbrecher prädestiniert. Ein riesiger Unterkiefer, große Augenhöhlen sowie eine fliehende Stirn hätten ihm das Delikt quasi schon ins Gesicht geschrieben.
Lombroso meinte sogar genau unterscheiden zu können, welche Gesetzesübertretung welches Aussehen zeitige. Diebe besäßen demnach krumme Nasen, Sexualverbrecher schwellende Lippen, und über die Mörder heißt es in seinem viel beachtetem Buch L'nomo delinquente: "Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; der Kiefer stark knochig, die Lippen dünn, die Eckzähne groß". Dass solche Theorien knapp ein halbes Jahrhundert später von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurden, dürfte nicht weiter erstaunen. Für die Menschenverächter aller Couleur legitimierte die sogenannte Kriminalanthropologie jeglichen justizpolitischen Schnellschuss. Denn glaubte man an den geborenen Verbrecher, dann glaubte man nicht an Besserung. Der homo delinquens, er muss lebenslang weggeschlossen werden. Andernfalls, so schrieb Lombroso im Jahr 1889, bliebe noch die Todesstrafe übrig.
Ganz anders beurteilte man die Sache in Frankreich. Unter Vorarbeit großer Denker wie Jean-Jacques Rousseau entwickelte sich hier zur selben Zeit die so genannte kriminal-soziologische Schule. Diese vertrat die milieuorientierte Gegenthese. Für den Mediziner Alexander Lacassagne oder den Juristen Gabriel Tarde war der Mensch Produkt seiner Umwelt. Erziehung und soziale Herkunft seien es, die Verbrechen und Kriminalität hervorbrächten. Alexander Lacassagne hat das auf eine berühmt gewordenen Satz gebracht: "Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient". Im Jahr 1892 beendete er mit diesen Worten eine Rede auf dem Kriminalanthropologen-Kongress in Brüssel. Sie sollte für die weitere Entwicklung der Kriminologie prägend werden.
Der Streit um Determinismus und Indeterminismus hat die Kriminalitätstheorien geprägt. Bis heute wirken beide Ansätze in den verschiedensten Erklärungsmodellen zur Kriminalität fort. Doch die Liste der sogenannten "kriminogenen Faktoren" ist längst unüberschaubar geworden. Mal ist es die Armut, die das Böse schafft, mal die Wohlstandsverwahrlosung, mal der Werteverlust und die Sinnkrise, mal die zu harten Strafen von Eltern und Erziehungsberechtigten. Kulturpessimisten machen die Emanzipation der Frau oder das Fernsehen für das Verbrechen verantwortlich; Sozialpädagogen klagen über städtebauliche Defizite oder über ein mangelndes Freizeitangebot.
Das Wesentliche, das "Rätsel Kriminalität", hat man trotz all dieser Erklärungsversuche bis dato jedenfalls nicht lösen können. Besonders schwerste Verbrechen wie das Inzestdrama im niederösterreichischen Amstetten oder die Taten des 11. Septembers 2001 werfen in der Gesellschaft stets aufs Neue die alten Fragen auf.
Vielleicht hat die einzig mögliche Antwort der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky gegeben. Im Hinblick auf den Amoklauf von Erfurt meinte er einmal: "Es gibt keinen direkten Weg zur Tat, dazwischen ist immer ein Abgrund."
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin und Wien.