Autobiografie
Christian Führer - Pfarrer der Nikolaikirche in Leipzig - blickt zurück
Eine Glaubensgeschichte will Christian Führer in seiner Autobiografie erzählen. Diese Absicht findet der Leser bestätigt, gerade so, als wären die Zeilen der Bach-Kantate "Herz und Mund und Tat und Leben muss von Christo Zeugnis geben" ein Leitmotiv seines Lebens. So ist viel von seiner Beziehung zu Jesus Christus, zur Musik und zu Leipzig die Rede. Auch wer zu all dem kein inniges Verhältnis hat, dürfte den Autor als Pfarrer jener Leipziger Kirche kennen, die nicht erst im Herbst 1989 eine Konstante im kirchlich-oppositionellen Wirkungsraum der DDR war. Diese Nikolaikirche und die Ereignisse in jenen Herbsttagen 1989 sind inzwischen in einem Roman von Erich Loest abgebildet, 1995 von Frank Beyer verfilmt - sie sind Geschichte und Literatur geworden.
Es ist nicht ganz verwunderlich, dass Christian Führer einen geradezu hymnischen Ton anschlägt, wenn es um diese historischen Tage geht, besonders um den 9. Oktober 1989 in Leipzig. Aus dem Abstand der Jahre und mit dem Wissen um den geplanten Einsatz von Staatsgewalt mit allen seinen Konsequenzen, scheint es noch unglaublicher, dass das, was geschah, ohne Blutvergießen geschah. Die Blutkonserven waren schon bereitgestellt, die Stadt war voller "bewaffneter Kräfte", die Viehställe auf dem Gelände der Landwirtschaftsausstellung "agra" vor den Toren der Stadt sollten Verhaftete aufnehmen - aber durch ihre Besonnenheit und vor allem ihre ungekannte Menge wirkten die friedlichen Demonstranten entwaffnend. Was Pfarrer Führer in unzähligen Friedensandachten seit 1980 als Gebot Jesu verkündet hatte, wurde an diesem 9. Oktober zu einer beeindruckenden Kraft: Gewaltlosigkeit.
Sicher wird die These Führers, die sich im Untertitel seines Buches "Die Revolution, die aus der Kirche kam" findet, in ihrer Pauschalität nicht unwidersprochen bleiben. Natürlich waren die Ereignisse, die wir heute unter dem Begriff Friedliche Revolution zu fassen versuchen, keine Bewegung allein von Christen. Klar ist jedoch, dass viele Kirchen und ganz speziell die Leipziger Nikolaikirche denjenigen Raum geboten haben, die sich für Pazifismus engagiert haben, für Umweltschutz und für einen demokratischen Wandel, auch wenn sie keine Christen waren. Klar ist ebenso, dass mit Friedensgebeten und Solidaritätsandachten für inhaftierte Oppositionelle in den Kirchen die nötigen Rituale, Formen und Orte für den Protest existierten. "Nikolaikirche - offen für alle", hieß das sichtbare und praktizierte Motto von Christian Führer in seinen 27 Jahren in dieser Gemeinde.
Die Bekanntheit, die er erlangte, und den Respekt, den er gewann, setzte er immer wieder für Menschen ein, die in Not waren. Er hat nach 1990 einen Arbeitslosenkreis gegründet, von Kündigung bedrohte Betriebsbelegschaften unterstützt, hat Mahnwachen für jene aus Leipzig stammenden Ingenieure organisiert, die im Irak in Geiselhaft waren. Christian Führer hat durch seine Art des Zugehens auf Menschen selbst Neonazis davon abbringen können, Leipzig über Jahre mit NPD-Demonstrationen zu überziehen. Alle bereits bis ins Jahr 2014 angemeldeten Aufzüge wurden nach einem Treffen mit dem Pfarrer zurückgezogen.
Im Film "Nikolaikirche" spielt der 2007 verstorbene Ulrich Mühe den Pfarrer von St. Nikolai als einen zarten, beseelten Mann. Er ist einfach da, ist eine wichtige Größe im ganzen Geschehen, aber um seine eigene Geschichte geht es nicht. Wer sich für jene Energie interessiert, die den 1943 geborenen Christian Führer bewegt, dem sei sein Buch empfohlen. Letztendlich wird das Geheimnis seines Gottvertrauens nicht völlig erklärt, Krisen und Krankheiten erhalten nicht viel Platz - eine protestantische Glaubensgeschichte eben. Bei aller befremdlichen Strenge barocker Kantatentexte ist das, was Menschen wie Christian Führer so beeindruckend macht, wohl jenes Übereinstimmen von Herz und Mund und Tat und Leben.
Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam.
Ullstein Verlag, Berlin 2009; 336 S. 19,90 ¤