DDR-GESCHICHTE
Viele Schüler wissen erschreckend wenig über SED und Stasi. Mecklenburg-Vorpommern versucht, mit einem "Demokratiebus" gegenzusteuern
Das Quietschen der dicken Filzstifte auf dem weißen Papier ist das einzige Geräusch, das man hört. Die elf Jungen skizzieren in Stichworten ihre Ideen von einer "friedlichen Revolution". Dann hängen sie ihre Ergebnisse an die Schnur die durch den Raum gespannt ist. Jetzt leuchten ihnen in gelben, roten, schwarzen und grünen Buchstaben Begriffe wie "Keine Gewalt", "Zusammenschluss" und häufig "Neuanfang" entgegen.
Diesen "Neuanfang", den Mauerfall 1989 und die Wiedervereinigung Deutschlands ein Jahr später, haben die Zehnt- und Elftklässler im Schulunterricht näher kennengelernt. "Lebendige Geschichte" heißt der dreitägige Kurs, für den sich die Schüler des Gymnasiums Ludwigslust während der diesjährigen Projektwoche entschieden haben. Das Thema haben sie sich selbst ausgesucht, denn seit einiger Zeit dürfen sie über die Inhalte der Projektwoche mitentscheiden. "Lebendige Geschichte" bedeutet für die 16- und 17-Jährigen vor allem Informationen und Diskussionen über den Staat, in dem ihre Eltern bis 1990 gelebt haben und den sie nur vom Hörensagen kennen: die Deutsche Demokratische Republik.
Im vergangenen Sommer sorgte die Studie von Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin für Aufsehen. Sie hatten 5.219 Schüler aus Bayern, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Berlin über ihr Wissen über DDR-Politik und -Alltag befragt. Der Studie zufolge stimmte gerade einmal die Hälfte der ostdeutschen Schüler der Aussage zu, dass der DDR-Alltag durch Diktatur und Überwachung geprägt war. Fast drei Viertel der Brandenburger und Ost-Berliner gaben zudem an, die DDR werde in der Schule zu wenig oder gar nicht behandelt. Auch knapp 65 Prozent der Westdeutschen meinten, im Unterricht werde zu wenig oder gar nicht über die DDR gesprochen.
Viele Politiker forderten daraufhin unter anderem bessere Konzepte für die Vermittlung politischer Bildung im Schulunterricht. In drei Anträgen setzten sich im Bundestag die Fraktionen von Union und SPD ( 16/9766) sowie FDP und Bündnis 90/Die Grünen ( 16/10312, 16/11201) für intensivere Aufklärung an Schulen auch über den SED-Staat ein.
In Mecklenburg-Vorpommern versucht das Bildungsminsterium schon seit Mai vergangenen Jahres diese Aufklärungsarbeit durch ein neues Projekt zu unterstützen. "Demokratie auf Achse" heißt es. Was dahinter steckt, lässt sich an diesem Mittwochmorgen zum Beispiel in Ludwigslust beobachten, keine 40 Kilometer von der Landeshauptstadt Schwerin entfernt.
Anette Blaschke und Iduna Sager, zwei Mitarbeiterinnen der Stasi-Unterlagen-Behörde Mecklenburg-Vorpommerns, sind morgens mit dem "Demokratiebus" auf den Hof gerollt. Im Gepäck haben sie einen Film, Rockmusik und eine Menge Diskussionsstoff. Die Augen der Schüler sind noch klein, als der Unterricht um kurz nach acht Uhr morgens beginnt. Zum Aufwärmen sehen sie einen Kurzfilm über "Die Klärung eines Sachverhaltes". Ein Ehepaar stellt einen Ausreiseantrag. Dem Staatsicherheitsdienst erscheint das verdächtig, der Mann wird 24 Stunden verhört. Am Ende steht eine anderthalbjährige Haftstrafe, aus der der Mann von der Bundesrepublik freigekauft wird. Dann erscheinen Zahlenkolonnen an der Wand. Sager hat eine Folie mit Daten zu Ausreise und Flucht aus der DDR aufgelegt. Die Informationen sprudeln förmlich aus der ehemaligen DDR-Bürgerin hinaus. Und sie erzählt aus ihrem eigenen Leben. Etwa, dass sie im Alter von 20 Jahren mit einer Reisegruppe im Kaukasus war. Sie wollte einmal ein Hochgebirge sehen. "Näher wären eigentlich die Alpen gewesen", sagt sie. Aber die lagen im Westen, die Reise hätte der Staat ihr nie erlaubt.
"Wir entwickeln das Projekt ständig weiter", erklärt Blaschke während einer kurzen Pause. Neben Unterrichtseinheiten zur Stasi-Vergangenheit bieten sie noch ein Planspiel zum Thema Wahlen und Projekte zu Europa an. "Studien zeigen, dass demokratische Werte in unserem Bundesland nicht überall verwurzelt sind", so Blaschke. Die niedrige Wahlbeteiligung - 59,1 Prozent im Jahr 2006 - und die mit immerhin sechs Sitzen im Landtag vertretene NPD seien zwei Indizien dafür. "Mecklenburg-Vorpommern ist ein Flächenland, da ist es schwierig, die Leute überall zu erreichen", begründet Blaschke die Idee des "Demokratiebusses".
Das zeigt sich auch am Gymnasium Ludwigslust. Die Schüler müssen ihr Elternhaus teilweise schon um halb sieben verlassen, um pünktlich zum Unterrichtsbeginn um acht da zu sein, erzählt ihr Lehrer Torsten Westphal. "Dann kommen sie abends nach Hause und müssen noch Schulaufgaben machen. Dass sie dann nicht mehr unbedingt über die DDR-Vergangenheit mit ihren Eltern diskutieren, ist auch verständlich", meint Westphal. Im Unterricht stehen der 45-Jährige und seine Kollegen oft vor dem Problem, die Schüler zu motivieren. "Von 25 Schülern haben vielleicht 3 oder 4 Interesse an Geschichte. Das war aber schon immer so", sagt Westphal. Doch wenn es um Menschen gehe, in die sie sich hineinversetzen könnten, "kann man sie packen". Deswegen auch die Einladung an die Mitarbeiter von "Demokratie auf Achse". "Gerade bei der DDR-Geschichte kann man viel mit Empathie arbeiten", sagt Westphal, "Da habe ich Stunden, in denen sie so intensiv zuhören, dass man eine Stecknadel fallen hören kann."
Aus dem Lautsprecher dröhnen Gitarren und Schlagzeug, an der Wand leuchten Fotos von jungen Menschen mit bunten Haaren und zerissenen Jeans auf. Rock-, speziell Punkmusik, war den Obersten der DDR suspekt, erklärt Blaschke den Jungen. Die Musiker und ihre Anhänger wurden von der Polizei als "kriminell gefährdet" registriert. Die elf Jungen hängen in ihren Stühlen, melden sich kaum. Erst als Bürgerrechtler Heiko Lietz den Raum betritt werden sie lebhafter.
Felix Partsch hat sich auf die Diskussion mit "der Gallionsfigur der Bürgerbewegung in Mecklenburg-Vorpommern", wie er den Schülern angekündigt wird, besonders gefreut. "Von meinen Eltern weiß ich, dass die nicht so rebelliert haben, da ist es gut, mal eine andere Sichtweise mitzukriegen", sagt der 16-Jährige. "Im Unterricht haben wir die DDR-Geschichte ziemlich knapp behandelt. Man hört oft so Sprüche wie ,Früher war alles besser', da fragt man sich ja doch, was stimmt", fügt er hinzu.
Nachdem sie ihre Stichwortzettel zur "friedlichen Revolution" besprochen haben, lässt Lietz die Schüler die Charta der Menschenrechte vorlesen. Anschließend diskutieren sie über den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung. "Das war auf jeden Fall richtig, weil das Leben des Einzelnen ganz schön eingeschränkt war", sagt ein Junge. "Naja, die Sozialsysteme waren nicht die schlechtesten, da hätte ich mir eine Pro- und Contra-Liste gemacht", entgegnet ein anderer.
Dann beginnt Lietz zu erzählen. Der ehemalige Pastor wurde von der Stasi beschattet und drangsaliert. "Es gab Leute in meiner Umgebung, die auf merkwürdige Weise plötzlich Autounfälle hatten", beschreibt das damalige Mitglied des "Neuen Forums" und von Bündnis 90/Die Grünen die Situation. "Ich war mir meines Lebens nicht mehr sicher." Aus seiner Sicht war das Auflehnen gegen den Staat notwendig: "Als die Mauer gebaut wurde, hatte ich das Gefühl, dass wir zu Leibeigenen wurden."
Sebastian Ueltzen hört den Erzählungen ruhig, aber gespannt zu. Für ihn ist es eine Gelegenheit, eine andere Sicht auf die Ereignisse zu hören. Der 16-Jährige hat viel von seinen Eltern über das Leben in der DDR gehört. "Aber über die Machenschaften der Stasi konnten sie mir nicht so ausführliche Details erzählen. Das hat mich jetzt schon sehr erschreckt."