Ankunft in FRiedland
Jahrelang waren sie auf der Flucht. Aber nun sind die ersten irakischen Christen im ehemaligen Grenzübergangslager angekommen
Endlich in Sicherheit', das war mein erster Gedanke, als ich in Friedland ankam", sagt Georgina Nissan (33). Nie werde sie den Moment vergessen, als sich die Bustür auf dem Parkplatz vor dem Grenzübergangslager in Niedersachsen öffnete und ihr Menschen Blumen und Plakate mit der Aufschrift "Welcome in Germany" entgegenhielten. In diesem Augenblick lag eine mehrjährige Odyssee durch den Nahen Osten hinter ihr. Die junge chaldäische Christin gehört zum ersten Kontingent der 2.500 irakischen Flüchtlinge, die auf Beschluss der Innenministerkonferenz im vergangenen September ein dauerhaftes Bleiberecht in der Bundesrepublik erhalten sollen. Bis Juni 2009 werden im Abstand von zwei Wochen je 150 Flüchtlinge in Friedland eintreffen. Vorsichtig nippt Georgina an einer Tasse Kaffee. Die zierliche Frau fröstelt. Trotz Frühling ist es noch immer winterlich kalt draußen. Temperaturen, die sie aus Syrien, wo sie vorher gelebt hat, nicht kannte.
Am 19. März kamen die ersten Frauen, Männer und Kinder zwischen 13 und 73 Jahren in Friedland, das nur zwei Kilometer von der ehemaligen innerdeutschen Grenze entfernt liegt, an. Unter ihnen sind Verheiratete und Alleinstehende, und auch solche, die mit ihren Verwandten ausreisen konnten. Zu viert oder sechst leben sie in knapp 17 Quadratmeter großen Zimmern, ähnlich wie in einer Kaserne. In einigen Wochen schon werden sie, deren Aufenthaltsstatus zunächst auf drei Jahre begrenzt ist, bundesweit auf Städte und Gemeinden verteilt, können dort ihr neues Zuhause beziehen.
Unterstützung bekommen die irakischen Flüchtlinge von karitativen Organisationen wie dem Roten Kreuz, der Caritas oder der Diakonie. Und von der evangelischen Kirche, die im Lager Friedland ein eigenes Büro unterhält. Pfarrer Martin Steinberg hat ein offenes Ohr für die kleinen und größeren Sorgen seiner Schützlinge. Und wenn es mal mit der Verständigung hapert, hat der Seelsorger in seinem Handy die Nummern von Dolmetschern gespeichert, die er bei Bedarf auch kurzfristig kontaktieren kann.
"Als erstes muss ich Deutsch lernen", sagt Nissan. Das sei im Moment das Wichtigste. Danach würde sie gerne Floristin werden, obwohl das mit ihrem bisherigen Job nicht viel zu tun hat. Der aber hat zumindest dafür gesorgt, dass sie Grundkenntnisse in Englisch mitbringt, die ihr in der Fremde zunächst auch weiterhelfen. In Bagdad nämlich hat die alleinstehende Frau in einem großen Hotel gearbeitet. "Bei uns verkehrten viele Ausländer. Da konnte ich gut üben", sagt sie.
"Es klingt paradox, aber nach dem Sturz Saddam Husseins wurde die Situation für uns unerträglich", erinnert sich Nissan. Mit dem Verfall der staatlichen Ordnung im Irak traten muslimische Milizen auf den Plan, die die Christen der Kollaboration mit den im Land stationierten US-Streitkräften bezichtigten und wahllos gegen sie - oft mit tödlichem Ausgang - losschlugen. Fast täglich gab es Anschläge gegen christliche Gemeinden und Geschäfte. Frauen und Kinder wurden auf offener Straße bedrängt, das Kopftuch zu tragen. "Die US-Truppen konnten uns nicht helfen, die hatten genug damit zu tun, sich selbst gegen die Attentate zu schützen", sagt Nissan.
Nachdem vor drei Jahren eine Freundin der Familie auf offener Straße erschossen wurde, stand für sie und ihre Eltern fest: Wir müssen das Land verlassen. In Windeseile verkauften sie die kleine Wohnung in Bagdad, die Möbel, den Fernseher, das alte Zündapp-Moped ihres Bruders und die kleine Werkstatt für Haushaltsgeräte, mit der der Vater die Familie ernährt hatte. Mit knapp 50.000 US-Dollar im Gepäck machten sie sich im Kleinbus eines Bekannten auf den Weg nach Syrien, wo sie am Stadtrand von Damaskus in einem heruntergekommenen Wohnblock Unterschlupf fanden. "In Syrien lebten wir drei Jahre von unseren Ersparnissen", sagt Nissan. Arbeit gab es so gut wie keine. Die Geschwister konnten nicht zur Schule gehen und haben stattdessen mit Handlangerdiensten zum Überleben der Familie beigetragen. "Wären wir nur einen Monat länger in Syrien geblieben, hätten wir betteln gehen müssen", sagt Nissan.
Sie ist der deutschen Regierung "unendlich dankbar", dass sie ihrer Familie eine neue Heimat gegeben hat, sagt Nissan und verdrückt dabei ein paar Tränen. "Ich werde jede Arbeit annehmen. Ich will dem Staat nicht auf der Tasche liegen", sagt sie.
Um genau dies zu verhindern, hat die Bundesregierung bei der Auswahl der Flüchtlinge diesmal sehr genau hingeschaut und wird dies nach Angaben von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) auch in Zukunft tun. Über das UNHCR, das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, wurden in Syrien nur solche Personen in die engere Wahl für eine Aufnahme in Deutschland gezogen, die ein hohes Maß an "Integrationsbereitschaft" mitbringen. Eine gute Voraussetzung jedenfalls, um aus dem verpflichtenden dreimonatigen Integrationskurs Gewinn zu ziehen.
Unterschiedliche Reaktionen rief die Aufnahme der irakischen Flüchtlinge bei den Fraktionen des Bundestages hervor. "Wir hoffen, dass die Menschen bei uns eine neue Heimat finden und einen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten", sagt Rüdiger Veit, flüchtlingspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Die Aufnahme der Flüchtlinge sollte der Auftakt für die Etablierung eines Ansiedlungsprogramms in Deutschland sein, wie es das UNHCR seit langem empfiehlt.
Kritisch äußert sich die Linksfraktion. "Die jetzt erfolgreiche Aufnahme der irakischen Flüchtlinge kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das deutsche Asylsystem darauf ausgerichtet ist, Schutzbedürftige so bald wie möglich wieder loszuwerden", sagt Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin. Jelpke gibt zu bedenken, dass zwischen 2005 und 2007 fast alle der mehr als 12.000 Verfahren zur Überprüfung des Asylstatuts irakischer Flüchtlinge mit einem Widerruf endeten. Erst 2008 habe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seine diesbezügliche Praxis geändert.
Ähnlich äußert sich Josef Winkler, migrationspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion. "In Deutschland gibt es bereits eine große Anzahl geduldeter irakischer Flüchtlinge, die aufgrund ihres Status keinen Zugang zu Integrationsleistungen wie Deutschkursen und Leistungen zum Lebensunterhalt haben", sagt der Abgeordnete. Er plädiert für einen sicheren Aufenthaltsstatus für alle Iraker, damit es nicht zu Spannungen innerhalb der irakischen Gemeinde in Deutschland kommt. Denn anders als geduldete Flüchtlinge haben die irakischen Christen Zugang zu Sozialleistungen und Krankenversicherung.
Reservierter zeigte sich die liberale Bundestagsfraktion. "Die Probleme in Krisenregionen lassen sich nicht dauerhaft durch Bevölkerungstransfers lösen", sagte der Abgeordnete Hartfrid Wolff (FDP). Die Flüchtlinge müssten sich gut integrieren, damit Deutschland weiter hilfsbereit bleiben kann. Dem pflichtet auch die CDU/CSU-Fraktion bei. "Deutschland hat ein Interesse daran, dass die Flüchtlinge ihren Lebensunterhalt so schnell wie möglich selbst verdienen", sagte Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU). Die Union ist zuversichtlich, dass sich die irakischen Christen rasch in die deutsche Alltagskultur einleben werden.
Georgina Nissan hat die ersten Schritte in diese Richtung getan: "Wir haben schon einen Ausflug nach Göttingen gemacht." Die gepflegte Innenstadt und das reichhaltige Warenangebot der Geschäfte hätten ihr sehr gut gefallen, erzählt sie. Ihre nächste Station wird Augsburg sein, wohin sie mit ihren Eltern und ihren sechs jüngeren Geschwistern ziehen wird. Hoffentlich ein Stück Heimat fern der Heimat.