parteiensystem
Mit fünf parlamentarischen Kräften sind klare Mehrheiten seltener geworden
Jetzt ist die Situation da: Auch in Deutschland ist die Bildung einer verlässlichen Parlamentsmehrheit für eine stabile Regierung nicht mehr so selbstverständlich wie zwischen 1953 und 2002. Ist das nun Grund zur Sorge oder Zufriedenheit? Das kommt auf den Beurteilungsmaßstab an.
Jahrzehntelang war die Klage populär, Deutschland sei vom rechten Parlamentarismus abgekommen. Der bestehe darin, dass sich eine Regierung die erforderliche Parlamentsmehrheit fallweise zusammenverhandeln müsse, es dabei - je nach Sachfrage - Für- und Gegenstimmen quer über die Fraktionen gäbe, und dass die Regierung nicht zu Beginn ihrer Amtszeit einen "Blankoscheck" bis zur nächsten Wahl erhalte, was dem Parlament die Kontrolle über die Regierung entwinde.
Dagegen ist zwar einzuwenden, dass Wesentliches am voll entwickelten, verlässlich funktionierenden parlamentarischen Regierungssystem hier verkannt wird: Wahlrecht und Wähler sorgen für eine sich als Mannschaft verstehende Parlamentsmehrheit. Diese schickt ihre Spitzen- oder Vertrauensleute in die Regierungsämter. Im Parlament stehen sich klar Regierungsmehrheit und Opposition gegenüber; regierungstragende Fraktionen kontrollieren die Regierung effektiv intern, Oppositionsfraktionen durch öffentliche Kritik. So bestehen klare Ketten politischer Verantwortung zwischen Regierung, Parlament und Wählerschaft - und eine Regierung ist unter solchen Umständen wirklich handlungsfähig, kann aber ihre Fehler auch nicht verstecken.
Das Gegenargument ist dann meist, derlei gäbe es in Großbritannien wegen eines letztlich unfairen Wahlrechts, in Deutschland aber nur deshalb, weil machtversessene Altparteien neue Konkurrenz mit der undemokratischen Fünf-Prozent-Sperrklausel niederhielten. Der eigentlich erstrebenswerte Normalfall fände sich in Skandinavien: Dort seien Minderheitsregierungen an der Tagesordnung - und hätten vorbildliche Gemeinwesen aufgebaut.
Wen aber die Götter verderben wollen, dem erfüllen sie seine Wünsche. Plötzlich ist die innenpolitische Diskussion gekippt: Man macht sich Sorgen um die Stabilität unseres Staates, um die Regierbarkeit unseres Landes - und feiert eben nicht die Wiederkehr des "echten Parlamentarismus", wenn am Wahlabend das Rennen um die Regierungsmacht keineswegs gelaufen ist oder, wie unlängst in Hessen, gar die Chance zu bestehen scheint, vom Parlament aus "die Regierung vor sich herzutreiben". Oft lehrt erst der Verlust, und sei es der drohende, den Wert des zuvor achtlos Besessenen.
Denn nun erkennen viele den politischen Preis eines fest etabliertes Fünf-Parteien-Systems, zumal eines asymmetrischen mit vielleicht nur noch der Union als wirklichem Gravitationszentrum der großen politischen Lager. Erstens steigen die Transaktionskosten für die Bildung einer Regierung und für die Sicherung von deren Stabilität: Dauernd werden politische Aufmerksamkeit und Arbeitskraft durch die Aufgabe gebunden, zwischen rivalisierenden Parteien auszuhandeln, was zuvor durch Führungsarbeit innerhalb von Volksparteien zusammengeführt werden konnte.
Zweitens steigt die Anzahl möglicher Blockierer: Wird Regierungsbildung auch auf Landesebene prekär, also das Bild innerdeutscher Koalitionen immer bunter und dennoch die Abstimmungsregel im Bundesrat nicht geändert - wonach Enthaltungen stets als Neinstimmen wirken - dann entwickelt sich dieser zu einer Oppositionskammer; nur eben zu einer solchen, die nicht mehr, wie zu Lafontaines Zeiten, strategisch klar mit Oppositionstätigkeit im Bundestag verkoppelt ist, sondern sich im rein fallbezogenen parteilichen Taktieren ergeht. Das aber wird der Konsistenz bundesdeutscher Gesetzgebung sehr schaden.
Drittens reduzieren sich beim Auftreten labiler Vielparteien- oder Minderheitsregierungen die zeitliche Perspektive möglicher Machtausübung sowie der Horizont politischer Verantwortung: Man muss nicht mehr langfristig für die Folgen kurzfristiger Vorteile einstehen, weil dann ja längst eine andere Parteienkonstellation an der Macht sein wird. Das wird "gutem Regieren" höchst abträglich sein.
Viertens verliert der Wähler so an Kontrolle über die politische Klasse: Weder kann er, bei derartigem Versickern politischer Verantwortung ins Diffuse, mit dem Stimmzettel zielgenau belohnen oder strafen - noch gibt es irgendwelche Gewähr dafür, dass sich zu Wahlkampfzeiten in Aussicht gestellte Koalitionen nach der Wahl wahrscheinlich realisieren. Derlei beeinträchtigt aber die Demokratie und verlangte zwingend nach fakultativen, von der Bürgerschaft selbst herbeizuführenden Gesetzesreferenden auch auf Bundesebene. Nur so ließe sich die politische Klasse weiterhin an einen auch inhaltlich artikulierten Volkswillen binden - und nicht nur an instabile Mehrheitsverhältnisse, die oft ganz anderen Diskurslagen entsprangen, als sie später dem politischen Gewerbe zugrunde liegen.
Also sollten wir die Situation, die gegenwärtig "da ist", nicht wirklich begrüßen. Wer immer darauf hinwirken kann, dass sie wieder verschwindet, sollte denn auch seinen Teil dazu beitragen.
Die SPD zum Beispiel könnte nach links rücken und sich in einigen Jahren - so neue Erfolge sichernd - mit der Linkspartei verbinden. Die Christdemokraten könnten sich durch Öffnung für Lebensgefühl und Habitusformen der weithin bürgerlichen Grünen neue Optionen eröffnen. Und die Wähler müssen auf unreifen Trotz verzichten, wie er dem Protestwahlverhalten doch meist zugrunde liegt.
Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der TU Dresden.