Wie er die Mauer damals bezwang, wird wohl für immer sein Geheimnis bleiben. Am 14. August 1980, so erzählt Lech Walesa, kletterte oder sprang (da gibt es unterschiedliche Versionen) er über einen Wall der Danziger Werft. Er war spät dran, die Geheimpolizei war ihm auf den Fersen, die streikenden Arbeiter der damaligen Lenin-Werft warteten auf ihren protesterprobten Anführer: Er musste die Hürde überwinden. Welche Technik er dazu benutzte, diese Frage mochte er später nicht mehr beantworten. Ein Stück dieser Werftmauer ist seit vergangener Woche an der nordöstlichen Ecke des Bundestages aufgestellt: Kein Gartenzäunchen, sondern eine stabile Einfriedung von knapp drei Metern Höhe. Wie gelangte der Arbeiterführer also auf die andere Seite? Zwängte er Finger und Fußspitzen in die schmalen Ritzen zwischen den Ziegelsteinen, wo der Mörtel herausgebröselt war? Hatte er morgens noch eine Strickleiter eingepackt? Oder setzte er auf die Solidarität seiner Kollegen und ließ sich eine Räuberleiter geben? Walesa schweigt und bereichert die mythenreiche Geschichte des 20. Jahrhunderts um ein weiteres Rätsel.
Doch vielleicht ist schon die Frage nach Hilfsmitteln und Klettertechnik falsch gestellt. Mauern zu überwinden ist schließlich seit den Zeiten des Alten Testaments ein Zeichen dafür, dass man das Schicksal auf seiner Seite hat. Die Mauern von Jericho fielen durch den Klang von Widderhörnern. Und keiner wollte die Szene später nachstellen, um zu ergründen, welche Tonart den Einsturz von Stadtmauern besonders begünstige. Dass ein polnischer Journalist Jahre später mit seinem eigenen Mauersprungversuch an der Danziger Werft kläglich scheiterte, ist kein Wunder: Der Atem der Geschichte, der Lech Walesa über die Mauer geweht hatte (von den Scorpions später auch als "Wind of Change" besungen), hatte sich da schon wieder gelegt.