GEORGIEN
Ein Jahr nach dem Krieg sehen sich beide Konfliktparteien weiter im Recht. Die Zukunft der Region ist ungewiss und viele dort fürchten, in Vergessenheit zu geraten
Omar Kigalia ist ratlos. Er sitzt in einem Flüchtlingsheim in Zugdidi, im Westen Georgiens. Seit mehr als 15 Jahren lebt er hier, verdient seinen Lebensunterhalt als Hilfsarbeiter. Zu Hause fühlt er sich nicht. Kigalia kommt aus Abchasien. Von dort ist er Anfang der 90er Jahre geflohen. Seine Frau und seine Mutter leben noch drüben, versorgen das Vieh und bestellen den Garten. Bisher ist Omar Kigalia alle 14 Tage zu ihnen hin-übergelaufen, 20 Kilometer, über die Grenzlinie auf Trampelpfaden. Doch diese Besuche werden immer schwieriger. Denn vor einem Jahr hat Russland Abchasien anerkannt. Russische Soldaten bauen nun die Grenze aus.
Die Abchasen wollen, dass Georgier wie Omar Kigalia nur noch mit einer Sondererlaubnis nach Abchasien einreisen dürfen. Omar Kigalia hat Angst, dass er bald dauerhaft von seiner Familie getrennt wird. "Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll", klagt er. "Es hat keinen Sinn, dass meine Familie hierher zieht, nach Zugdidi, denn hier haben wir nichts außer einem Zimmer." Dass er dauerhaft nach Abchasien zurückkehrt, kommt für ihn auch nicht in Frage. Nicht, solange die Russen dort sind. So etwas wie ein kleiner Grenzverkehr ist nicht in Sicht. Zu verhärtet sind die Fronten zwischen Georgien auf der einen und Abchasien und Russland auf der anderen Seite. Ein Jahr nach dem Krieg um Südossetien ist die Situation in Georgien weiter verfahren.
Der Jahrestag des Kriegsausbruches hat gezeigt, dass die Konfliktparteien das Geschehen völlig unterschiedlich einschätzen. So ist die Regierung Georgiens der Auffassung, Russland habe in Georgien einmarschieren wollen, um die westlich orientierte Regierung in Tiflis zu stürzen und zu verhindern, dass Georgien Nato-Mitglied wird. "Es gilt allenthalben als bewiesen, dass dieser Feldzug lange vorbereitet worden war", schrieb der georgische Staatspräsident Micheil Saakaschwili in der FAZ. Die Regierung verbreitet, Georgien habe sich am 7. August verteidigen müssen. Russland hingegen spricht von einem Überfall Georgiens auf Südossetien. Die russische Armee habe eingreifen müssen, um Menschenleben zu retten.
Die EU hat eine Kommission eingesetzt, um heraus zu bekommen, wer wirklich mit dem Krieg begonnen hat: Georgien oder Russland. Ende September will sie einen Bericht präsentieren. Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" berichtete vorab, die Kommission komme zu dem Ergebnis, dass die Georgier den Krieg begonnen hätten. Die Regierung Georgiens bemüht sich derweil, die Bevölkerung zu einen. Am Jahrestag des Kriegsausbruches tönten aus allen landesweiten Fernsehkanälen patriotische Lieder. "Ich hatte Hemmungen, den Ventilator einzuschalten", witzelt der Sozialarbeiter Irakli Absandze, "am Ende wäre auch dort noch die Nationalhymne herausgekommen." Auch Russland nutzte den Jahrestag, um Stärke zu demonstrieren. Präsident Dmitrij Medvedev stattete der 58. russischen Armee im nordkaukasischen Wladikawkas einen Besuch ab. Und er forderte die westlichen Staaten auf, die "neuen Realitäten" im Kaukasus anzuerkennen. In diesem Punkt aber ist die EU kompromisslos. "Wir werden Abchasien und Südossetien niemals als souveräne Staaten anerkennen", beteuert Przemyslaw Grudzinski, Staatsminister im polnischen Außenministerium. Polen macht sich in der EU besonders für Georgien stark. Die EU fordert, dass Russland die Anerkennung Südossetiens und Abchasiens rückgängig macht und endlich Beobachter der EU dorthin lässt. Auch die Nato steht in dieser Frage auf georgischer Seite. Zwar hatte die Nato ihre Gespräche mit Russland nach dem Georgienkrieg aus Protest ausgesetzt, mittlerweile reden sie aber wieder miteinander. Der neue Nato-Generalsekretär, Anders Rasmussen spricht sogar davon, das Verhältnis zu Russland zu verbessern. "Wir werden Georgien aber nicht vergessen", versichert Jamie Shea, Berater der Nato.
Die Nato bleibe bei ihrer prinzipiellen Zusage, Georgien "irgendwann" aufzunehmen - eigentlich eine verklausulierte Vertagung auf den St. Nimmerleinstag. Doch in Georgien will man das nicht wahrhaben. Regierungsvertreter in Tiflis tönen optimistisch, die Nato stehe fester denn je an georgischer Seite.
Nichts fürchtet die Regierung mehr, als dass Georgien mit seinen territorialen Konflikten von der internationalen Agenda verschwindet. Vor diesem Hintergrund erklären sich auch die aufgeregten Spekulationen über einen neuen Krieg im Südkaukasus. Kurz vor dem Jahrestag machten Meldungen über Schusswechsel im georgisch-südossetischen Grenzgebiet die Runde. Die EU-Beobachter hatten nichts derartiges festgestellt. In Wirklichkeit hat keine der Seiten ernsthaftes Interesse an einem neuerlichen Krieg. Bei all den geopolitischen Diskussionen über angebliche "neue Realitäten" gerät eines oft in Vergessenheit: Die Meinung der Menschen in Abchasien und Südossetien. Sie wollen nicht mehr in einem georgischen Staat leben.
Zumindest die Abchasen wollen aber auch den russischen Einfluss begrenzen. "Die Delegationen aus Russland sind für uns die zweite Wahl.", sagte die Journalistin Indira Barcidz während sie in Suchumi auf ein Interview mit russischen Provinzpolitikern wartet. Lieber würde sie mit Vertretern der EU reden. Die Abchasen seien schließlich Europäer. Doch offizielle Vertreter der EU kommen zur Zeit nicht nach Abchasien. Damit aber treibt die EU Abchasien weiter in die Arme Russlands, warnen Diplomaten wie Johan Verbeke.
Eines aber hat die EU erreicht: Unter ihrer Leitung treffen sich die Repräsentanten aller Konfliktparteien, um zu beraten, wie sie eine erneute Eskalation verhindern können. EU und UN vermitteln bei den Gesprächen. Beim Treffen im abchasischen Gali ging es darum, dass die Anwohner auch künftig die Grenze passieren dürfen. So wie Omar Kigalia. Er ist überzeugt: "Eigentlich verstehen wir uns mit den Abchasen. Das Problem sind die Politiker."