START IN DIE LEGISLATUR
Die neue Wahlperiode beginnt für Verwaltung und Fraktionen mit einigen Herausforderungen
Auf den ersten Blick herrscht Ruhe. Nicht das übliche Gewimmel auf den Fluren, keine Schlange in der Kantine, der Plenarsaal leer. Während draußen nasskalter Herbstwind um die Reichstagsmauern weht, scheint es drinnen, als ob die parlamentarische Sommerpause auch vier Wochen nach der Bundestagswahl nicht zu Ende gegangen ist. Doch die Stille trügt. Tatsächlich sind die Vorbereitungen für die neue, 17. Wahlperiode hinter den Kulissen bereits in vollem Gange. Die fünf Fraktionen und die Bundestagsverwaltung arbeiten schon seit Wochen daran, das frisch gewählte Parlament so schnell wie möglich arbeitsfähig zu machen, wenn es sich am 27. Oktober konstituiert. Das bedeutet: Die nicht wiedergewählten oder ausgeschiedenen Parlamentarier müssen ihre Zimmer räumen, die neuen Abgeordneten ihre Büros beziehen. Möbel müssen abgeholt, auf- und umgestellt, Büros neu beschildert, Computer installiert, Datenbanken und das Telefonbuch aktualisiert, Faxe und Telefone eingerichtet werden. Bis zur konstituierenden Sitzung muss das Herzstück des Parlaments, der Plenarsaal, außerdem so umgebaut sein, dass sich das veränderte Kräfteverhältnis der Fraktionen im 17. Deutschen Bundestag angemessen widerspiegelt. Die Techniker haben in den vergangenen Tagen schon Tische und Stühle demontiert, Telefone aus- und wieder eingebaut, Standmikrofone umgesteckt und schließlich die Akustik des gesamten Plenarsaals neu justiert, damit die Redner auch nach dem Umbau von jedem Platz aus gut zu hören sind. "Das bedeutete Abend- und Wochenendarbeit", sagt Stephan Mast vom zuständigen Bundestagsreferat. "Anders war das nicht zu schaffen."
Das Stühlerücken im Parlament beginnt nach jeder Bundestagswahl, nichts Besonderes also im Wahljahr 2009, und doch ist diese Zeit selbst für "alte Hasen" im Parlamentsbetrieb immer wieder aufregend. "Das ist schon ein Highlight", sagt Paul Thelen, Leiter des Tagungsbüros des Bundestages und seit nunmehr 20 Jahren im Haus beschäftigt. "Es ist immer wieder eine Herausforderung, in so kurzer Zeit so viele Dinge zu liefern, damit die Fraktionen arbeitsfähig sind." Thelen und seine sieben Mitarbeiter sind schon seit Wochen eingespannt in die parlamentarische Tour de Force, unzählige Überstunden und Urlaubssperre inklusive. "Die Wahlnacht haben wir durchgezogen", sagte Thelen. "Da haben wir um 4 Uhr vom Bundeswahlleiter die Ergebnisse bekommen und in unsere Datenbank eingegeben." Schon Montag früh musste das Glückwunschreiben des Bundestagspräsidenten an die 622 gewählten Abgeordneten verschickt werden, wenig später stand die FDP vor der Tür. Nach einem Stimmenzuwachs von 4,7 Prozent hielt der neue Koalitionspartner in Berlin im Reichstag seine erste Fraktionssitzung ab. Thelen und sein Team verteilten vorläufige Hausausweise und Bahn-Fahrkarten an die Abgeordneten; die endgültigen Tickets und Ausweise werden ihnen nach der konstituierenden Sitzung im praktischen Ledermäppchen in die Büros geliefert.
So geht das seither täglich: Am 29. September trafen sich die anderen Fraktionen, dann musste das Schreiben des Direktors an die Abgeordneten in die Post. Dem Brief fügte das Tagungsbüro allerhand nützliche Informationen bei: die Geschäftsordnung des Bundestages zum Beispiel, aber auch Broschüren über Mandatsreisen und Abgeordnetenentschädigung - wichtige Lektüre vor allem für Neuparlamentarier.
Bis zur Sitzung am 27. Oktober sollen die Abgeordneten auch ihre Abstimmkarten, eines ihrer wichtigsten "Werkzeuge" im Plenum, in die Hand bekommen: je 40 blaue (für Ja-Stimmen), 40 rote (für Nein-Stimmen) und 20 weiße (für Enthaltungen). "Wir haben gut zu tun", fasst Paul Thelen das Arbeitspensum des Tagungsbüros schlicht zusammen.
Ulrich Hübner von der "Zentralen Beschaffung" kann sich über Langeweile ebenfalls nicht beklagen. Er und die gesamte, eigens gebildete "AG Umzug" kümmert sich darum, dass die Abgeordneten möglichst schnell ihre Büros beziehen können. Wenn nötig, werden die Zimmer gestrichen, gereinigt und umgebaut. Auch die Umzüge organisieren Hübner und seine Kollegen - zusammen mit anderen Mitarbeitern, die etwa Telefone und Computer installieren.
Wer wohin zieht, entscheiden die Fraktionen, die Verwaltung setzt die Wünsche lediglich um. In diesem Wahljahr dürfte die Logistik besonders aufwendig werden: 200 neue Abgeordnete zählt der 17. Bundestag, durch Überhangmandate sind außerdem elf Abgeordnete mehr im Parlament vertreten als am Ende der vergangenen Legislatur. Weil sich die SPD-Fraktion nach der Wahl deutlich verkleinert, Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen, CDU und vor allem die FDP hingegen größer werden, müssen viele Parlamentarier und ihre Mitarbeiter wohl auch umziehen, wenn sie vorher schon ein Büro hatten. "Wir rechnen damit, dass wir insgesamt rund 1.600 Arbeitsplätze umgestalten müssen", sagt Hübner. Wahrscheinlich werden die letzten Abgeordneten spätestens Anfang 2010 in ihren Büros sitzen Hübner ist optimistisch, dass alles gut läuft. "Wir sind vorbereitet", sagt er.
Unvorbereitet getroffen hat der Wahlausgang hingegen viele SPD-Abgeordnete. Das schlechte Abschneiden der Sozialdemokraten hat dazu geführt, dass sich die Fraktion um ein gutes Drittel verkleinern muss - 76 Sitze gingen ihr verloren. Viele alteingesessene, erfahrene Parlamentarier hatten außerdem nicht mehr kandidiert. Für die SPD-Fraktion ist die Situation nicht nur politisch, sondern auch organisatorisch eine schwere Bürde. "Wir müssen viele Räume abgeben", sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion Thomas Oppermann. "Das wird eine langwierige Umzugsveranstaltung." Auch der Fraktionssitzungssaal muss umgestaltet werden, die geringere Zahl von Abgeordneten macht eine neue Sitzordnung unausweichlich. Außerdem bekommt die verkleinerte Fraktion künftig weniger Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. "Wir müssen überlegen, wie viel Personal wir uns noch leisten können und wo wir einsparen müssen", sagt Fraktionsmanager Oppermann zerknirscht. Eine seiner wichtigsten Aufgaben derzeit: "Gespräche, Gespräche, Gespräche" führen. Im Halbstunden-Takt kommen die Abgeordneten zu ihm und bringen ihre Wünsche an, welche Aufgaben sie in der kommenden Legislatur gerne übernehmen wollen. Wer wird Ausschussvorsitzender? Wer wird Arbeitsgruppensprecher? Oppermann bemüht sich, die Wünsche der Kollegen zu erfüllen. Doch ihm ist auch klar: Nach elf Jahren in der Regierung muss sich die Fraktion in der Opposition umstellen. "Wir sind in einer Phase der Neuorientierung. Die Arbeit in der Fraktion wird sich vollkommen von der bisherigen unterscheiden."
Diese Aussage könnte auch die FDP unterschreiben, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Die künftige Regierungsfraktion ist um 32 Parlamentarier auf 93 angewachsen, der Sitzungssaal in einem der Türme des Reichstagsgebäudes ist jetzt viel zu klein. Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Ernst Burgbacher, sucht bereits nach einem neuen, ausreichend großen Raum; bislang tagen die Liberalen provisorisch im Großen Protokollsaal im Reichstag. Zudem organisieren die Geschäftsführer der Liberalen derzeit Büros für die vergrößerte Fraktion. Wichtig dabei: Die Kollegen sollen möglichst nah beieinander sitzen.
39 FDP-Abgeordnete waren zuvor noch nie im Parlament. Für sie hat die Fraktion nicht nur eine Einführungsveranstaltung organisiert, sondern auch ein spezielles Medientraining. Außerdem ist jedem Newcomer ein Pate aus der bisherigen Fraktion zugewiesen - das ist auch in anderen Fraktionen so üblich. "Wer noch kein Büro hat, kann dort seine Post abholen, telefonieren und arbeiten", sagt der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Jörg van Essen.
Wenn klar ist, welche Ministerien es geben wird, wartet auf ihn und seine Kollegen schon die nächste Aufgabe: die Besetzung der Bundestagsausschüsse. Sie werden spiegelbildlich zu den Ministerien gebildet. "Bei uns war es bisher Tradition, dass jeder Abgeordnete mindestens einen seiner Wunschausschüsse bekommt", sagt van Essen. Wahrscheinlich wird das auch diesmal so sein. Doch für van Essen ist auch klar: Die ersten Wochen der neuen Legislaturperiode werden noch eine "große logistische Herausforderung". Chaos befürchtet der Liberale aber nicht "Das schüttelt sich schnell, wenn die Kollegen erst mal mit der Arbeit beginnen", sagt er gelassen. Ab 27. Oktober kann es losgehen.